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“OER” von Tomke Berning für die HOOU@HAW Hamburg (2022),
06.03.2025 | Ellen Pflaum
Das Recht auf Bildung: Ein Plädoyer für Open Educational Resources (OER)
Wir von der Hamburg Open Online University (HOOU) setzen uns mit Herzblut für Open Educational Resources, oder kurz: OER, ein. Wir sind davon überzeugt, dass diese eine Hilfe zur Lösung verschiedener Herausforderungen im Bildungsbereich darstellen. Dieser Artikel ist ein Plädoyer für OER. Wir zeigen Euch, warum unsere Welt OER braucht.
Als OER bezeichnen wir sämtliche Bildungsmaterialien und -inhalte, die frei nutzbar sind. Das heißt, dass sie legal und kostenfrei vervielfältigt, verwendet, verändert und verbreitet werden können.
Dies unterstützt die Öffnung der Bildung. Konkret heißt das, dass OER, einmal im Internet veröffentlicht, von allen Menschen auf der Welt frei genutzt werden können. So kann beispielsweise das Lernangebot Supporting Innovation Competences in Online Education weltweit Menschen Kenntnis vermitteln, was Innovationskompetenz ist und in welchen Bereichen sie diese stärken können, um den gesellschaftlichen und beruflichen Herausforderungen zu begegnen.
Damit kommen wir zu der Frage, wie OER Chancengerechtigkeit in der Bildung beitragen kann.
UNESCO: „Inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sicherstellen“
Das Menschenrecht auf Bildung wurde 1948 in den Allgemeinen Erklärungen der Menschenrechte festgelegt und durch verschiedene andere Dokumente konkretisiert. So hat die Bildungsagenda 2030 der UNESCO das folgende Ziel:

„Bis 2030 für alle Menschen inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sicherstellen sowie Möglichkeiten zum lebenslangen Lernen fördern.“UNESCO, online in <a href=“HTTPS://WWW.UNESCO.DE/SITES/DEFAULT/FILES/2018-01/BILDUNGSAGENDA%202030_AKTIONSRAHMEN_KURZFASSUNG_DEUTSCHEVERSION_FINAL.PDF, CC-BY-ND“>Bildungsagenda 2030</a>
Es geht also nicht um ein (rein) altruistisches Postulat, sondern um die Realisierung eines definierten Rechts. Das Recht auf Bildung ist das vierte der 17 sogenannten Sustainable Development Goals (SDGs) der UN (United Nations). Und dennoch: Weltweit und auch innerhalb der Länder gibt es nach wie vor eine große Ungleichheit in der Bildung. Der Zugang zu Bildung wird stark von Faktoren wie Herkunft, sozialem Status oder auch dem Geschlecht bestimmt. Neueste Untersuchungen ergaben übrigens, dass sich diese Ungleichheiten seit 2020 durch die Corona-Pandemie weiter verschärft haben.
Bei der HOOU wollen wir dazu beitragen, mit Hilfe von Offener Bildung und OER:
- Bildungsarmut zu durchbrechen
- Bildungschancen zu ermöglichen
- Bildung weltweit zu verbessern
- Zugänglichkeit von hochwertigen Bildungsmaterialien zu erhöhen.
Wie kann das Menschenrecht auf Bildung eingehalten werden?
Durch eine Öffnung der Bildung wird die Teilhabe aller an Bildung ermöglicht bzw. vereinfacht. Für Hochschulen bieten offene Bildungsressourcen eine Chance, sich zu öffnen und auch Menschen den Zugang zu ihren Lerninhalten ermöglichen, die nicht physisch präsent bei ihnen studieren.
Doch auch wer heute an einer Hochschule studiert, sieht sich häufig mit erheblichen Kosten für Lernmaterialien (oftmals Fachbücher) konfrontiert. Dieses Phänomen lässt sich in den USA in besonders ausgeprägter Form beobachten. Laut einer 2016 durchgeführten Studie (Florida Virtual Campus, 2016 Student Textbook and Course Material Survey haben 66,6 % der 22.000 befragten Studierenden das erforderliche Lehrbuch nicht gekauft, von denen 37,6 % eine schlechte Note erhielten und 19,8 % den Kurs nicht bestanden.
Um zu verdeutlichen, um welche Summen es sich hier handelt: In East Carolina wurden im Jahr 2018 die Lehrbuchkosten für Studierende im Grundstudium auf 1306 $ (entspricht umgerechnet ca. 1099,60 Euro) jährlich geschätzt. (Quelle: Thomas, W. J., & Bernhardt, B. R. (2018). Helping keep the costs of textbooks for students down: Two approaches. Technical Services Quarterly, 35(3), 257-268.)
Es zeigt sich schnell, welche Benachteiligungen finanziell und sozial schlechter gestellte Schüler*innen und Studierende erfahren. OER ermöglichen hingegen kostenfreien, niederschwelligen und lernendenorientierten und damit leichteren Zugang zu Bildung als klassische Lehr-/Lernmaterialien. Sie können Benachteiligungen dadurch leichter entgegenwirken.

„Der freie Zugang zu Bildungsressourcen im Internet wird immer mehr als Bedingung für nationale und globale gesellschaftliche Entwicklung erkannt“.Barbara Getto und Michael Kerres (<a href=“https://www.pedocs.de/volltexte/2018/15385/pdf/Ackeren_et_al_2018_Flexibles_Lernen_mit_digitalen_Medien.pdf#page=18″>2018</a>)
Stärkung der Zivilgesellschaft durch OER
Auf individueller Ebene fördert Bildung das selbstverantwortliche Handeln und das staatsbürgerliche Bewusstsein. OER bieten dafür einen Raum. Jenseits der formalen Bildung finden hier Themen eine Öffentlichkeit, die Faktenwissen und allgemeinbindende Themen abbilden.
Des Weiteren fördert die HOOU für die Zivilgesellschaft relevante und die Allgemeinbildung fördernde Projekte auch im wissenschaftlichen Kontext: z.B. zu den Themen psychische Erkrankungen bei Studierenden (z. B. „Studieren mit einer psychischen Erkrankung: geht das?“), Ernährung und Nachhaltigkeit (z. B. Nudging für mehr Gesundheit und Nachhaltigkeit oder zum Thema Diversität (z. B. „Diversify! – Diversitätsbewusste Mediengestaltung“).
Bildung lebt von der ständigen Veränderung
OER können zu einer offenen Lehr-/Lernkultur, zum lebenslangen Lernen und somit zu einer Verbesserung der Bildung beitragen. Offene Bildungsressourcen sind eng verzahnt mit dem Prozess der Digitalisierung der Bildung. Die Investition lohnt sich. Die positiven Aspekte – sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene – sind vielfältig und miteinander verzahnt.
Es bleibt noch immer viel zu tun in dem vergleichsweise jungen Feld der OER. OER passen manchmal nicht in unser Bild, das von klaren Strukturen und formaler Bildung geprägt ist, denn offene Bildungsressourcen leben von der ständigen Veränderung, dem ständigen Wandel und das ganz gezielt.
Sie bieten Möglichkeiten Wissen zu generieren, zu teilen, sich auszutauschen und alle Menschen können teilhaben. Mit Hilfe von OER ermöglichen wir neuartige Lernerlebnisse, kreatives Lernen und bieten so Raum zum Experimentieren und für Innovationen.
In unserer komplexen Welt mit ihren großen und dringenden Herausforderungen braucht es: Genau das!
Dieser Artikel ist eine gekürzte Version des Artikels „Ein Plädoyer für OER“ von Nina Anders und Martina Schradi, veröffentlicht unter CC BY 4.0 DE. Er wurde ursprünglich auf dem mittlerweile eingestellten Blog Lehre:digital der HOOU an der HAW Hamburg veröffentlicht.

Bild: Sasun Bughdaryan/Unsplash
28.02.2025 | Meena Stavesand
Im Labyrinth der Symptome: Facharzt spricht über langen Weg zur Diagnose bei seltenen Erkrankungen
Anlässlich des internationalen Tages seltener Erkrankungen am 28. Februar (in Schaltjahren am 29. Februar) sprechen wir mit dem Oberarzt Dr. Fabian Braun vom UKE über die Thematik und wie viele Menschen betroffen sind. Es sind mehr als gedacht.
Dr. Fabian Braun ist Internist und unter anderem Oberarzt im Martin Zeitz Centrum für Seltene Erkrankungen des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Im Interview erläutert er, wie oft so genannte seltene Erkrankungen wirklich vorkommen, wie die Suche nach der richtigen Diagnose und der passenden Therapie aussieht und an welche Patientin er sich wohl sein Leben lang erinnern wird. In diesem Lernangebot des UKE werden seltene Erkrankungen im Detail erläutert.

Seltene Erkrankungen.Online.Verstehen.
Die Symptome einer seltenen Erkrankung sind in der Regel sehr komplex. Deshalb ist es oft nicht leicht, sofort die Ursache zu finden. Oft fehlt jedoch der Zugang zu verlässlichen Informationen bezüglich Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten.
Dr. Braun, was definiert eine Krankheit als „selten“ und wie viele Menschen sind weltweit und in Deutschland davon betroffen?
Dr. Fabian Braun: Die Definition ist rein statistischer Natur im Moment. Das heißt: Wenn eine Erkrankung seltener oder gleich 1 auf 2000 Personen auftritt, sprechen wir von einer seltenen Erkrankung. Damit haben wir in Deutschland etwa zwischen vier und fünf Millionen Betroffene. Daran merkt man auch, dass seltene Erkrankungen gar nicht so selten vorkommen, wenn wir alle Fälle zusammennehmen, sondern wir viele Patientinnen und Patienten deutschlandweit haben, die an individuellen seltenen Erkrankungen leiden.
In der EU sind es circa 30 Millionen Betroffene, weltweit gehen wir von über 300 Millionen Menschen aus. Es gibt auch regionale Unterschiede bezüglich der Häufigkeit bestimmter Erkrankungen, die in unseren Breitengraden beispielsweise als selten anzusehen sind, während sie in anderen Teilen der Welt häufiger vorkommen. Aber man merkt an diesen Zahlen, dass das Gebiet der seltenen Erkrankungen ein großes sozialmedizinisches Problem darstellt
Können Sie das in Relation setzen zu einer „Volkskrankheit“ wie Diabetes mellitus?
Dr. Braun: Insbesondere Diabetes mellitus des Typs 2 ist in Deutschland weit verbreitet. Wir bewegen uns hier in einem Bereich von fast 10 Prozent, also 1 auf 10 Betroffene.
Für Krankheiten wie Diabetes mellitus gibt es durch die Häufigkeit eine große Studienlage. Das ist bei seltenen Erkrankungen nicht der Fall. Welche Herausforderungen ergeben sich daraus?
Dr. Fabian Braun: Die Diagnose ist das erste Problem. Denn wir arbeiten im medizinischen System nach dem Motto: Häufig ist es häufig, selten ist es selten. Das klingt furchtbar trivial, aber dementsprechend hat man die meisten Berührungspunkte und auch die größte Erfahrung mit häufigeren Krankheitsbildern. Das ist dann noch einmal abhängig davon, wo man als Medizinerin oder Mediziner tätig ist. Die Allgemeinmedizinerin in der Stadt beispielsweise wird natürlich viel öfter Husten, Schnupfen, Heiserkeit, Bluthochdruck oder Diabetes sehen als beispielsweise die Nephrologin bei uns in der Uniklinik, die sich dann in manchen Fällen mit seltenen Nierenerkrankungen auseinandersetzen muss.
Generell kommt bei der Diagnostik die Problematik hinzu, dass man als Arzt oder Ärztin erst einmal daran denken muss, dass es eine seltene Erkrankung sein könnte, da ein Großteil dieser mit sehr gängigen Symptomen auftritt. Es sind selten Blickdiagnosen – diese gibt es vor allem bei Betroffenen im Kindesalter. Manche Symptome demaskieren sich allerdings auch erst nach der Adoleszenz (also im Erwachsenenalter) und treten dann mit Symptomen auf, die wir bei vielen häufigen Erkrankungen sehen. Das macht eine Diagnose schwieriger.

Wenn man auf dem richtigen Weg ist, sind wir in der Diagnostik zum Glück ein großes Stück weitergekommen. Das fängt bei metabolischen Untersuchungen an, die wir aus dem Blut direkt testen können, sprich, ob bestimmte Abbauprodukte zum Beispiel nicht vernünftig ausgeschieden werden können, und geht weiter bis wirklich tiefste genetische Diagnostik, die wir mittlerweile mit vertretbaren Kosten durchführen können. Das führt dazu, dass die Gruppe der seltenen Erkrankungen anwächst. Therapie und die Erfahrungen mit Therapie sind dann der Anschlusspunkt. Wenn es nur sechs Fälle weltweit gibt, kann man nicht von statistischen Verläufen sprechen, sondern ist wirklich in einem Extrembereich, in dem man auf seine Expertise, aber auch auf das eigene medizinische Gefühl angewiesen ist.
Eine weitere Herausforderung war früher, dass die Entwicklung von Medikamenten für seltene Erkrankungen lange für die Pharmafirmen nicht rentabel gewesen ist. Das hat sich mittlerweile geändert. Allerdings stellt dies auch das Gesundheitssystem vor Herausforderungen, weil wir hier von Therapiekosten sprechen, die schnell eine halbe Million Euro pro Jahr betragen können.
Wie läuft das meistens ab? Mir geht es nicht gut und ich überlege, zum Arzt zu gehen. Der erste Weg führt mich dann zu meinem Hausarzt. Was passiert danach?
Dr. Fabian Braun: Es gibt unterschiedliche Wege, wie Sie schlussendlich zu uns finden. Wenn Ihre hausärztliche Praxis schon Hinweise findet, dass ein bestimmtes Organsystem betroffen ist – und nur das –, dann haben Sie die Möglichkeit, zu einem Facharzt oder einer Fachärztin für dieses Organ zu gehen. Diese Facharztpraxis entscheidet dann nach weiteren Untersuchungen, ob es noch intensivere Expertenmeinungen braucht und involviert uns als Centrum für seltene Erkrankungen oder direkt eine Spezialambulanz oder -abteilung im UKE. Sobald es mehrere Organsysteme trifft, kann dieser Weg schwieriger werden, weil es dann häufig unterschiedliche Befunde gibt, die teilweise nicht alle dramatisch beziehungsweise noch in der Anfangsphase sind, sich aber häufen. Und wenn tatsächlich der Verdacht auf eine seltene Erkrankung besteht, die aber nicht genau zu fassen ist, dann gibt es die Möglichkeit, dass Sie bei uns im Zentrum für seltene Erkrankungen des UKE vorgestellt werden. Davon gibt es in Deutschland über 30.
Meistens erhalten wir ein zweiseitiges Dokument, indem die hausärztliche oder fachärztliche Praxis die Hauptsymptome erläutert. Wir erfassen das und versuchen, weiterzuhelfen. Im Zweifelsfall lassen wir uns die Akte schicken, die auch hunderte Seiten stark sein kann. In einem Extremfall hatte eine Patientin zwei Aktenschränke mit Befunden zu Hause stehen, das können wir nicht durcharbeiten, da sind wir auf die Mithilfe der behandelnden Praxen angewiesen.

Wie geht es weiter, wenn Sie die wichtigsten Informationen vorliegen haben?
Dr. Fabian Braun: Liegen die wichtigsten Informationen vor, diskutieren wir das interdisziplinär im Gremium. Darin sitzen Spezialistinnen und Spezialisten aus der Humangenetik, aus der Gastroenterologie, Neurologie, Psychosomatik und Nephrologie. Wenn Kinder betroffen sind, holen wir uns die Pädiatrie hinzu. Wir konsultieren bei Bedarf auch andere UKE interne Kliniken, z.B. die Kardiologie. Manchmal ergibt es das Krankheitsbild, dass wir Betroffene direkt in die spezialisierten Zentren schicken können. Doch manchmal ist der Befund unklar und wir führen zum Beispiel selbst eine genetische Diagnostik durch. Sobald wir Anhaltspunkte haben, können wir die Betroffenen an die Spezialambulanzen vermitteln. Das ist unser Job: den Patientinnen und Patienten schnell helfen, indem wir sie an die Expertinnen und Experten verweisen.
Ihr Beispiel mit der Schrankwand ist eindrücklich. Der Leidensweg für die Betroffenen ist oftmals sehr lang ist, richtig?
Dr. Fabian Braun: Ja. Durchschnittlich kann man sagen, dass es fünf Jahre dauert, bis eine seltene Erkrankung diagnostiziert ist. Und bei diesem Durchschnittswert muss man bedenken, dass er viele Kinder inkludiert, die sehr früh diagnostiziert werden. Das heißt im Umkehrschluss, die Zeitspanne reicht von ein paar Wochen bis hin zu Jahrzehnten.
Können Sie ein Beispiel für eine seltene Krankheit geben?
Dr. Fabian Braun: Da möchte ich ein Beispiel aus meinem Forschungsgebiet der Nephrologie, also der Nierenheilkunde, anführen. Das ist der Morbus Fabry, eine seltene Stoffwechselerkrankung, die genetisch vererbt wird. Das Problem ist ein sehr diffuses Krankheitsbild. Es fängt meistens im Kindesalter mit Schmerzen in den Händen und Füßen und mit Bauchschmerzen und Verdauungsauffälligkeiten an. Und da werden die meisten schon denken: Ja, Kinder haben mal Bauchschmerzen, Verstopfung oder Durchfall. Das macht es ganz schwierig, schon in diesem Stadium die Krankheit zu diagnostizieren.
Im weiteren Verlauf kommt es zu Hautveränderungen, die auftreten können, aber auch nicht übermäßig sein müssen. Die Schmerzen an den Händen und Füßen, die sich vor allem bei Hitze und Kälte verstärken können, nehmen irgendwann ab, weil die Nervenzellen kaputt gehen. Danach kommt es zu stärkeren Organbeteiligungen. Es kommt zu einer Beeinträchtigung der Nierenfunktion, es kommt zu einer Beeinträchtigung des Herzens, es kommt zu frühen Schlaganfällen. Vor 23 Jahren hatten wir dafür wenig Therapien, was zu einer deutlich verkürzten Lebenserwartung geführt hat. Das hat sich glücklicherweise geändert. Aber Morbus Fabry ist ein typisches Beispiel, das vor allem früher, als es noch sehr wenige Fälle gab und die Studienlage dünn war, eine Diagnostik aufgrund des diffusen Krankheitsbildes und damit auch die Therapie schwierig waren.
Können Sie über einen besonders bemerkenswerten Fall in Ihrer Karriere berichten, bei dem die Behandlung erfolgreich war?
Dr. Fabian Braun: Ja, das ist tatsächlich die erste Patientin gewesen, die ich jemals ärztlich betreut habe. Die allererste Patientin, die ich aufgenommen habe, als ich in Köln meine Ausbildung in innerer Medizin und Nephrologie begonnen habe. Sie hatte ein seltenes Krankheitsbild, eine sogenannte TTP (thrombotisch thrombozytopene Purpura): Bei ihr kam es zu einem Verbrauch der Blutplättchen und gleichzeitig zu einer Zerstörung der roten Blutkörperchen, was unter anderem die Nieren beeinträchtigte. Wir haben die Patientin dann entsprechend behandelt, worauf ich jetzt nicht im Detail eingehe.
Dieses Krankheitsbild besserte sich zwar, aber die Frau entwickelte eine schwere Darmerkrankung mit einer granulomatösen Entzündung in den Dünndarmbereichen, die wir nicht verstanden haben. Sie konnte Nahrung nicht mehr vernünftig aufnehmen und musste lange über die Vene ernährt werden. Ich war ein halbes Jahr auf der Station tätig. Die Patientin war die ganze Zeit da und wurde von mir betreut. Durch weitere Proben und Test hatten wir dann den Verdacht, dass es eine Erkrankung sein könnte, die bisher erst fünfmal weltweit beschrieben worden ist. Wir bewegen uns hier in dem extrem seltenen Bereich. Die Diagnose lautete dann: ideopathische nicht-granulomatöse ulzerative Jejunoileitis.
Konnten Sie der Patientin helfen?
Dr. Fabian Braun: Ja, ich habe ihr an meinem letzten Tag, bevor ich in meiner Ausbildung weiter rotiert bin, ein Medikament verabreicht, das zu den Immunsuppressiva oder den Immunmodulatoren zählt. Das war meine letzte gute Tat, die ich an der Patientin vollbringen konnte, denn danach hat sich das Krankheitsbild tatsächlich gebessert. Ich habe im Vorfeld des Interviews noch einmal bei den Kolleginnen und Kollegen in Köln nachgefragt, ob sie damit auch weiterhin beschwerdefrei ist. Ist sie. Sie bekommt das Medikament regelmäßig. Also, das ist ein Fall, der mich wahrscheinlich mein Leben lang begleiten wird. Sie ist, soweit ich das überblicken kann, bisher die einzige Patientin, die weltweit jemals die Kombination dieser beiden Krankheitsbilder hatte.

Bei solch seltenen Fällen hilft Aufklärung – unter Medizinerinnen und Medizinern, aber auch in der Bevölkerung. Was können wir in der Gesellschaft tun, um das Bewusstsein für seltene Krankheiten zu erhöhen?
Dr. Fabian Braun: Ja, Aufklärung ist sehr wichtig. Also auch das, was wir mit diesem Interview tun, ist genau das Richtige. Ich fasse das mit dem Wort Awareness zusammen – meine damit aber weniger die Patientinnen und Patienten, sondern mehr das medizinische Fachpersonal, die Ärztinnen und Ärzte, aber auch die Pflegerinnen und Pfleger. Wir arbeiten immer im Team und besprechen uns. Da ist es hilfreich, wenn beispielsweise jemand gerade eine Fortbildung zu Morbus Fabry durchlaufen hat, von neusten Erkenntnissen weiß und diese in die Diagnostik einbringt. Dann können wir testen und den Betroffenen schneller helfen. Betroffene selbst sollten bei Beschwerden nicht zu lange warten, sondern die Hausarztpraxis aufsuchen – oder im schlimmsten Fall natürlich die Notfallambulanzen.
Über Dr. Fabian Braun
Dr. Fabian Braun ist Facharzt für Innere Medizin und geschäftsführender Oberarzt der III. Medizinischen Klinik sowie klinischer Leiter für Innere Medizin des Martin Zeitz Centrums für Seltene Erkrankungen des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Als Mitarbeiter der Ambulanz für genetische Nierenerkrankungen beschäftigt er sich seit Jahren klinisch mit seltenen renalen Erkrankungen und ist der Hauptansprechpartner für Fabry Patient:innen mit Nierenbeteiligung am UKE. Wissenschaftlich adressiert seine Arbeitsgruppe die intrazelluläre Signaltransduktion mittels Extrazellularvesikeln in seltenen Nierenerkanungen wie der fokal segmentalen Glomerulosklerose, membranösen Nephropathie und rapid progredienten Glomerulonephritis. Seit seiner Promotion an der Universität zu Köln beschäftigt er sich mit der molekularen Pathologie der Podozytopathie im Rahmen des Morbus Fabry mit dem stetigen Bestreben neuartige und informative in vitro und in vivo Systeme zu entwickeln. Mit seinem Wechsel nach Hamburg konnte er vor allem die Techniken des in vitro Disease Modelling von Morbus Fabry mittels induzierten pluripotenten Stammzellen und Organoidsystemen weiter vorantreiben und einen speziellen Fokus auf Substrat-unabhängige Krankheitsmechanismen legen. Während der COVID-19-Pandemie trug Dr. Braun darüber hinaus wesentliche Anteile zu den Studien zum Multiorgantropismus von SARS-CoV-2 und dessen Auswirkungen auf die Niere und Leber bei.

Mehr zu Seltenen Erkrankungen
Das UKE hat auf seiner Webseite noch weitere Informationen zu Erkrankungen, die nur sehr selten auftreten. Unter hoou-uke.de gibt es auch Wissenswertes über gesellschaftlich sehr relevante Erkrankungen wie Diabetes mellitus oder Herzinsuffizienz.

Foto: Gerd Altmann / Pixabay
12.02.2025 | Meena Stavesand
"Wissenschaft lebt von Perspektivenvielfalt und Interdisziplinarität"
Prof. Dr. Maren Baumhauer ist seit Februar neues Mitglied im HOOU-Aufsichtsrat. Anlässlich des internationalen Tags der Frauen und Mädchen in der Wissenschaft gibt sie Einblicke in die Zukunft des Wissenschaftssystems. Sie betont, dass echter Fortschritt nur durch fachübergreifende Zusammenarbeit und multiprofessionelle Teams entstehen kann.
Prof. Baumhauer setzt sich für transparente Bildungsangebote ein und macht mit innovativen Projekten wie dem „Navigator für KI-Einsteiger“ Wissenschaft für alle zugänglich. Dabei unterstreicht sie die Bedeutung einer offenen Wissenschaftskultur, die nicht nur den technologischen Fortschritt vorantreibt, sondern auch das gesellschaftliche Vertrauen in die Forschung stärkt.
Was macht Wissenschaft für unsere Gesellschaft so wertvoll und wie bereichert uns die Vielfalt der Perspektiven in der Forschung?
Prof. Dr. Maren Baumhauer: Meines Erachtens liegt gerade die Zukunft unseres Wissenschaftssystems in der Interdisziplinarität und einer Perspektivenverschränkung unterschiedlichster Forschungsansätze und -strategien begründet. Sicherlich ist der Aspekt der Selbstbehauptung und Anerkennung, gerade wenn es um das „eigene“ Gegenstandsinteresse einer Disziplin geht wichtig.
Ein „echter“ Fortschritt – im Sinne eines konkreten Mehrwerts für die Gesellschaft – lässt sich aus meiner Sicht aber nur mit einem „Blick über den eigenen Tellerrand“ und über die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams erzeugen. Wenn ich den Wert von Wissenschaft an bestimmten Kategorien festmachen müsste, würde ich vor allem den Erkenntnisgewinn, den technologischen Fortschritt und die Innovation, ihren kulturellen Beitrag und die Weiterentwicklung der Gesellschaft sowie die offenen Bildungsmöglichkeiten für Individuen herausstellen.

Der Internationale Tag der Frauen und Mädchen in der Wissenschaft (englisch: International Day of Women and Girls in Science) wird jedes Jahr am 11. Februar begangen und wurde erstmals 2016 offiziell gefeiert. Ausgerufen von den Vereinten Nationen, soll dieser Tag auf die nach wie vor bestehenden Ungleichheiten in wissenschaftlichen Disziplinen aufmerksam machen. Ziel ist es, die volle und gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Mädchen in den Bereichen Wissenschaft, Technik, Ingenieurwesen und Mathematik zu fördern. Gleichzeitig erinnert der Tag daran, dass Diversität und Chancengleichheit entscheidend sind, um Innovationen voranzutreiben und globale Herausforderungen zu meistern.
Wie können wir die Wissenschaftswelt offener und zukunftsfähiger gestalten?
Prof. Dr. Maren Baumhauer: Ein „offenes“ Konzept von Wissenschaft und Bildung hat aus meiner Sicht eine hohe Bedeutung für die Zusammenarbeit in Bildungsorganisationen und den Austausch von Wissen. Gemeinsam Wissensstrukturen zu erzeugen, zu teilen und voneinander zu profitieren ist für die kollektive und individuelle Kompetenzentwicklung im Kontext von Arbeit, Beruf und Bildung enorm wichtig.
Ein weiterer zentraler Punkt ist aus meiner Perspektive das gesellschaftliche Vertrauen in die Wissenschaft zu stärken. Transparente Bildungsangebote und der freie Zugang zu wissenschaftlich basierten Bildungsmaterialien können dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Genau diese Punkte sehe ich in den Bildungsinitiativen und offenen Lernangeboten der HOOU realisiert.
Ein aktuelles Beispiel ist der „Navigator für KI-Einsteiger“, den ich zusammen mit meinem Team konzipiert habe. Künstliche Intelligenz (KI) ist längst Teil unserer Bildungsrealität geworden. Unser Lernangebot richtet sich an alle Bildungsinteressierten und bietet neue Impulse, sich Schritt für Schritt dem Thema KI anzunähern, um ihre Möglichkeiten und Grenzen zu reflektieren.

Schritt für Schritt: Ein Navigator für KI-Einsteiger
Künstliche Intelligenz (KI) hat sich inzwischen zu einem integralen Bestandteil unseres Alltags entwickelt. Mit innovativen KI-Tools wie ChatGPT, DALL-E oder Gemini ist es möglich, Texte zu erstellen, Bilder zu generieren, Musik zu komponieren und komplexe Probleme zu lösen.KI bietet zahlreiche Chancen, bringt jedoch auch Herausforderungen und Risiken mit sich. Daher ist es von Bedeutung, sich aktiv mit diesem Thema auseinanderzusetzen, um die Möglichkeiten und Grenzen dieser technischen Entwicklung zu verstehen.Unser Lernangebot zeigt dir einen Weg auf, wie du dich Schritt für Schritt mit dem Thema KI vertraut machen kannst.
Was hat in Ihnen die Begeisterung für die Wissenschaft geweckt und welchen Rat möchten Sie jungen Menschen geben, die eine wissenschaftliche Laufbahn erwägen?
Prof. Dr. Maren Baumhauer: Wissenschaftlich zu arbeiten bedeutet für mich absolute Freiheit und kreative Entfaltungsmöglichkeit im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit. Das ist eine großartige Chance, die das Wissenschaftssystem für junge Menschen bietet. Herausfordernder war und ist es, geeignete Rahmenbedingungen im Kontext andauernder Befristung zu schaffen, um weder Energie noch Muße für die wissenschaftlichen Qualifizierungsphasen zu verlieren.
Für die Bewältigung dieser Phasen bedarf es eines zielgerichteten Ressourceneinsatzes, um sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Absolut wichtig ist für mich darüber hinaus die Entwicklung von Ambiguitätskompetenz im Wissenschaftssystem, die sich auf den Umgang mit Unsicherheiten und auch Mehrdeutigkeiten bezieht. Eine offene Haltung im Umgang mit Widersprüchen, unterschiedlichen Perspektiven und Erklärungsansätzen ist dafür unerlässlich.
Über Prof. Dr. Maren Baumhauer

Prof. Dr. Maren Baumhauer ist Juniorprofessorin für Berufliche Bildung und Digitalisierung am Dekanat T (Technologie und Innovation in der Bildung) an der TU Hamburg. Nach dem Studium der Erziehungswissenschaften (Dipl.-Päd.) an der Universität Trier mit den Nebenfächern Soziologie und Psychologie, Studienrichtung Weiterbildung, folgten Stationen als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universittät Trier und der Leibniz Universität Hannover.
Ihre Promotion legte Baumhauer in Berufspädagogik ab. Titel ihrer Dissertation: Berufsbezug und Wissenschaftsorientierung – Grundzüge einer Didaktik wissenschaftlich reflektierter (Berufs-)Praxis im Kontext der Hochschulweiterbildung. Seit 2023 forscht und lehrt sie an der TU Hamburg.

Bild: StockSnap / Pixabay
29.01.2025 | Meena Stavesand
Interkulturelle Kommunikation: Was einen Menschen prägt, beeinflusst seine Handlungen
Eine ausgestreckte Hand zum Gruß, aber das Gegenüber winkt nur kurz. Verwirrung auf beiden Seiten. Was passiert hier? Wie gehe ich mit der Situation um? Mit solchen Fragen befasst sich die interkulturelle Kommunikation. Doch was genau verbirgt sich hinter diesem Begriff? Und wie lässt sich der Umgang mit kulturellen Unterschieden lernen?
An der HAW Hamburg hat ein interdisziplinäres Team aus Expertinnen und Experten drei digitale Lerneinheiten entwickelt, sogenannte Eduboxes. Sie enthalten Lehr- und Lernmaterialien zu Themen der Interkulturellen Kommunikation, die digital verfügbar und flexibel einsetzbar sind. Diese Materialien sollen dabei unterstützen, Kompetenzen zu entwickeln um die Herausforderungen einer vernetzten und sich schnell verändernden Welt gut zu bewältigen und als Chance wahrnehmen zu können.
Im Interview erklärt Prof. Dr. Adelheid Iken, warum es bei der Interkulturellen Kommunikation nicht um pauschale Zuschreibungen wie „der Spanier“ oder „die Chinesin“ geht, sondern um individuelles, gegenseitiges Verständnis und dem Aushandeln gemeinsamer Handlungsroutinen. Und sie erläutert, wie interkulturelle Kompetenz dazu beitragen kann, die Herausforderungen von virtuellen internationalen Teams zu bewältigen.
Was ist interkulturelle Kommunikation?
Prof. Dr. Adelheid Iken: Das Wort Kommunikation kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Mitteilung, Austausch und Übertragung. Das „Inter“ steht für „zwischen“ – zwischen Menschen, zwischen Personen. Es geht also um Interaktionen in ganz unterschiedlichen Lebens-, Alltags- und Berufskontexten.
Die Kultur kommt als dritter Aspekt hinzu: Jeder wird durch die Zugehörigkeit zu ganz unterschiedlichen Gruppen und Lebenswelten geprägt. Da geht es beispielsweise um die die Familie, das Umfeld, in dem eine Person aufwächst, den Beruf und den Sportclub in dem jemand Mitglied ist. , Die Interkulturelle Kommunikation bezieht sich auf die Prozesse, die zwischen Personen stattfinden, die über unterschiedliche Gruppenzugehörigkeiten verfügen.
Uns geht es daher nicht um „den Griechen“ oder „den Spanier“, der sich in einer bestimmten Weise verhält – das wäre zu pauschalisierend und verallgemeinernd. In der Interaktion beschäftigen wir uns mit dem Individuum, mit der Person, die uns gegenübersitzt.

Oft gehen wir davon aus, dass unsere Art sich zu verhalten die richtige ist. In der Zusammenarbeit mit anderen merken wir dann: Es gibt verschiedene Wege zum Ziel. Für den gemeinsamen Erfolg ist dann die Verständigung und das Aushandeln von wichtig.Prof. Dr. Adelheid Iken
Können Sie das anhand eines Beispiels aus dem Alltag erklären?
Prof. Dr. Adelheid Iken: An der Hochschule treffen sich zwei Menschen zum ersten Mal. Eine Person streckt die Hand zum Handschlag aus, die andere winkt nur kurz. Das sind zwei unterschiedliche Begrüßungsrituale, und das kann verwirren – besonders wenn man seit 20 Jahren an der Hochschule ist und eine bestimmte Form der Begrüßung gewohnt ist.
Eine solche Situation lässt sich schnell erklären und häufig auch klären. Hier fehlt offensichtlich das Verständnis darüber, was an der Hochschule als ‚normal‘ wahrgenommen wird und es gilt, eine gemeinsame Handlungsroutine zu entwickeln.
Komplexer wird es bei der Zusammenarbeit in interkulturellen Teams oder der Arbeit an gemeinsamen Projekten. Hier kann es Verwirrungen oder Irritationen geben, weil Teammitglieder ein unterschiedliches Verständnis von Zusammenarbeit haben, in der Art und Weise Kritik zu üben oder zu kommunizieren. Dann gilt es, innezuhalten, zu reflektieren, zu analysieren, Fragen zu stellen und offen für die Sichtweise des anderen zu sein.

Interkulturelle Kommunikation
...unterstützt Sie bei der Entwicklung von interkulturellen Kompetenzen, die in einer Reihe von beruflichen, sozialen und Arbeitszusammenhängen benötigt werden.
Wie kann ich lernen, mit solchen Situationen umzugehen?
Prof. Dr. Adelheid Iken: Es beginnt beispielsweise mit aktivem Zuhören und einem Perspektivwechsel. Man versetzt sich in die Situation des anderen und stellt Fragen. Das lässt sich lernen und wird ein Teil der eigenen Kompetenzen. Oft gehen wir davon aus, dass unsere Art sich zu verhalten die richtige ist. In der Zusammenarbeit mit anderen merken wir dann: Es gibt verschiedene Wege zum Ziel. Für den gemeinsamen Erfolg ist dann die Verständigung und das Aushandeln von wichtig.
Um ein einfaches Beispiel zu nennen. Ein Mitglied im Team gibt seinen oder ihren Arbeitsbeitrag immer erst in letzter Minute ab, was mich aber nervös macht, weil ich gerne frühzeitig alle Unterlagen zusammen haben möchte.
Anstatt direkte Kritik zu üben, hilft es Fragen zu stellen und gegenseitige Erwartungen zu klären. Das hilft meistens schon, eine gemeinsame Lösung zu finden. In diesem Fall könnte es sein, dass beide ein unterschiedliches Verständnis von Deadlines und den Arbeitsprozessen haben um eine mögliche Erklärung zu nennen.
Um diese Fähigkeit zu schulen, gibt es ein Lernangebot, das sich mit der interkulturellen Kommunikation beschäftigt. Sie haben dafür etwas Besonderes konzipiert: die Edubox. Was ist das?
Prof. Dr. Adelheid Iken: Edubox steht für Educational Boxes – virtuelle Boxen in denen Lehr- und Lernmaterialien zu finden sind die ganz unterschiedlich eingesetzt werden können und damit sowohl für Lernende als auch für Lehrende und Trainer genutzt werden können.
Die Box „Interkulturelle Kommunikation“ beispielsweise hat neun Lerneinheiten und es gibt sie auf Deutsch und auf Englisch. Sie enthält Texte, Fallbeispiele, Videos und Reflexionsfragen. Und es gibt die Möglichkeit, Learning Journals zu führen – eine Art Lerntagebuch, um das Erlernte zu dokumentieren.
Das Material der EduBox eignet sich für ein Selbststudium aber auch für den Unterricht als Flipped Classroom: Das Material wird vorab er- und bearbeitet. Im Unterricht folgen dann praktische Übungen.

Stell dir einen digitalen Werkzeugkasten fürs interkulturelle Lernen vor – das ist eine Edubox. Nach einer kurzen Einführung, die den Aufbau erklärt, geht es direkt los: Du findest eine übersichtliche Navigation durch alle Lerneinheiten. Jede Einheit verrät dir zu Beginn, was du dort lernen kannst. Dann folgt ein Mix aus Theorie, praktischen Beispielen, Übungen und Fragen zum Nachdenken. Das Besondere: Du entscheidest selbst, was dich interessiert. Kennst du ein Thema schon? Dann spring einfach zum nächsten. Am Ende jeder Einheit kannst du mit einer Übung testen, was hängen geblieben ist.
Welche weiteren Boxen gibt es?
Prof. Dr. Adelheid Iken: Neben der EduBox zur interkulturellen Kommunikation gibt es eine EduBox, bei der das Thema der Zusammenarbeit in virtuellen interkulturellen Teams im Zentrum steht. Dabei geht es um die besonderen Herausforderungen virtueller Zusammenarbeit und wie ich es schaffe, aus einer heterogenen Gruppe von Personen ein hoch effizientes virtuelles Team zu entwickeln.
Bei Design Thinking handelt es sich um ein agiles Werkzeug und ein Ansatz zur Bewältigung komplexer Herausforderungen. Es hilft Teams, reale Herausforderungen anzugehen und schnell von Ideen zu potenziellen Lösungen zu gelangen. Wie man Design Thinking nutzen kann, ist Inhalt der dritten EduBox.

Design Thinking
Are you looking for creative solutions to a challenge you’re facing? If so, the EduBox “Design Thinking” is for you! It helps you practice virtual collaboration in diverse teams using a step-by-step approach to Design Thinking.
Wie groß ist das Team, das diese Boxen entwickelt?
Prof. Dr. Adelheid Iken: Die Schreib-Teams umfassen meist fünf bis sechs Personen, beim Design Thinking waren es weniger. Unser interdisziplinäres Team besteht aus Expert:innen der Interkulturellen Kommunikation und des interkulturellen Managements, aber auch der Erwachsenenbildung und der Wirtschaftsinformatik, es sind Lehrende aus Hochschulen dabei, ebenso wie freie Trainer:innen und natürlich IT-Fachkräfte und Illustrator:innen.

Virtual Intercultural Teams
This course will help you identify and tackle the key challenges of working in virtual intercultural teams, while building the professional and social competencies needed to achieve higher performance as well as job satisfaction when working in virtual intercultural environments.
Wird es noch eine vierte Box geben oder was ist geplant?
Prof. Dr. Adelheid Iken: Eine vierte EduBox ist zurzeit nicht geplant, aber wir verstehen unsere Arbeit als fortlaufenden Prozess. Das digitale Format ermöglicht es uns, Feedback einzuarbeiten und die Inhalte weiterzuentwickeln. Zwischen der ersten und zweiten Version der Box Interkulturelle Kommunikation haben wir beispielsweise unser Kommunikationsmodell überarbeitet. Und wir haben für alle drei Boxen ein Trainerhandbuch entwickelt.
Im Augenblick ist es uns wichtig, unsere Boxen bekannter zu machen. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, alle EduBoxen in englischer Sprache zur Verfügung zu stellen, weil wir Interessierte weltweit ansprechen wollen und den globalen Austausch ermöglichen möchten Daran arbeiten wir.
Über Prof. Dr. Adelheid Iken
Studium an der Universität Hamburg und an der London School of Oriental and African Studies (Ethnologie, Soziologie, Politische Wissenschaften und Amharisch). Anschließend Ausbildung zur Landwirtin.
10-jährige Berufs- und Forschungstätigkeit insbesondere in Ländern Afrikas (u.a. Äthiopien, Sudan, Namibia) und in der Mongolei.
Dissertation über frauenzentrierte Haushalte in Südnamibia (Women-headed Households in Southern Namibia: Causes, Patterns and Consequences).
Von 2002 bis 2023 Professorin für Interkulturelle Kommunikation an der HAW Hamburg

Zum Reinhören
Wenn du gerne Podcasts hörst, haben wir zu dem Thema noch drei Episoden für dich – zu interkultureller Kommunikation, zu interkulturellen virtuellen Teams und zu Design Thinking.

On the benefits of using Design Thinking
In this episode Christian Friedrich will be talking to Erik Schumb, an expert agile coach with years of experience in Design Thinking, about the benefits of using Design Thinking.

Intercultural Communication with Rüdiger Weißbach
In this episode Christian Friedrich will be talking to Rüdiger Weißbach, Professor at the Hamburg University of Applied Sciences, about Meeting the challenges of virtual intercultural teams.

Intercultural Communication with Anna Volquardsen
In this episode Christian Friedrich will be talking to Anna Volquardsen, founder of DEARWORK on the current relevance of Intercultural Communication.

Bild: sasint / Pixabay
24.01.2025 | Meena Stavesand
Wissen als Schlüssel: Wie lebenslanges Lernen unsere Welt verändert
Der demografische Wandel stellt unsere Gesellschaft vor große Herausforderungen. Angesichts einer alternden Bevölkerung, einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft und der rasanten Veränderungen in der Arbeitswelt gewinnt das Konzept des lebenslangen Lernens zunehmend an Bedeutung. Anlässlich des internationalen Welttages der Bildung (24. Januar) zeigen wir, wie wir, die Hamburg Open Online University als Wissensplattform, auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern.
Für uns spielt lebenslanges Lernen eine Schlüsselrolle bei der Integration verschiedener Bevölkerungsgruppen, bei der Sicherung von Arbeitsplätzen in Zeiten des technologischen Wandels und bei der Förderung des Zusammenhalts zwischen Jung und Alt.
In einer Welt, in der sich Berufe und Qualifikationen ständig verändern, müssen Menschen bereit sein, ihr Wissen stetig zu erweitern. Um das zu ermöglichen und zu fördern, braucht es faktenbasierte und qualitativ wie didaktisch erstklassige Bildungsangebote für alle. Der Zugang dazu muss niederschwellig und barrierearm sein.
Unterstützung für Menschen in jeder Lebensphase
Plattformen wie die HOOU als Verbundeinrichtung der Freien und Hansestadt Hamburg, der Hamburger Hochschulen (HAW Hamburg, TU Hamburg, Hochschule für Musik und Theater, Hochschule für Bildende Künste), der Multimedia Kontor Hamburg gGmbH und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf arbeiten daran und unterstützen Menschen in jeder Lebensphase mit ihren fundierten Wissensangeboten. Drei Gedanken dazu.
1. Fit für die Zukunft: Warum lebenslanges Lernen in der Arbeitswelt unverzichtbar ist
In einer alternden Gesellschaft, in der die Menschen länger im Erwerbsleben stehen, wird lebenslanges Lernen zu einer zentralen Voraussetzung, um berufliche Chancen zu sichern und den technologischen Wandel zu bewältigen. Dies gilt insbesondere für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich an neue Anforderungen anpassen müssen, um auf dem Arbeitsmarkt konkurrenzfähig zu bleiben.
Wir bieten als Plattform kostenlose, flexible und niederschwellige Weiterbildungsmöglichkeiten, die es Menschen (auch im Alter) ermöglichen, neue berufliche Kompetenzen zu erwerben. Durch die flexiblen Online-Formate können Interessierte die Lerninhalte auch mit begrenztem Zeitbudget – ob berufstätig oder in der Familienphase – nutzen.
Dies dient nicht nur der individuellen beruflichen Entwicklung, sondern wirkt auch dem durch den demografischen Wandel verschärften Fachkräftemangel entgegen.
2. Bildung für alle Lebensphasen: Persönliche Entwicklung durch lebenslanges Lernen
Lebenslanges Lernen unterstützt die persönliche Entwicklung in allen Lebensphasen – von der Jugend bis ins hohe Alter. Es ermöglicht jungen Menschen, ihre Bildung über die traditionellen schulischen und universitären Bildungswege hinaus zu erweitern, und älteren Menschen, neuen Interessen nachzugehen oder vorhandene Fähigkeiten auszubauen.
Gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels ist dies wichtig, da der Dialog zwischen den Generationen und der gegenseitige Wissenstransfer gestärkt werden. Wir fördern diesen generationsübergreifenden Austausch, indem wir Menschen den Zugang zu hochwertiger Bildung ermöglichen.
3. KI und Automatisierung: Warum technologische Bildung jetzt wichtig ist
Mit dem technologischen Wandel durch künstliche Intelligenz (KI) und Automatisierung sind viele Berufe im Umbruch. Dies betrifft sowohl junge Menschen, die in eine sich wandelnde Arbeitswelt eintreten, als auch ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die sich an diese Veränderungen anpassen müssen. Wir bieten daher Lerninhalte, die Menschen jeden Alters darauf vorbereiten, die neuen technologischen Anforderungen zu bewältigen.
Für Jugendliche und junge Erwachsene ist es wichtig, sich frühzeitig auf die digitale Zukunft vorzubereiten, während ältere Erwachsene durch die Plattform die Möglichkeit haben, sich neue berufliche Fähigkeiten anzueignen und ihre Karrierechancen zu sichern.
Fazit: Lebenslanges Lernen für eine erfolgreiche Zukunft im demografischen Wandel
Diese drei Gedanken zeigen, dass lebenslanges Lernen mehr ist als persönliche Entwicklung. Es ist ein gesellschaftlicher Auftrag vor dem Hintergrund des demografischen Wandels. Eine alternde Bevölkerung, zunehmende Diversität und technologische Umbrüche machen es erforderlich, dass Menschen ihre Kompetenzen kontinuierlich erweitern und sich an neue Herausforderungen anpassen.
Bildungsplattformen wie wir bieten die notwendige Infrastruktur, um diesen Wandel erfolgreich zu gestalten. Wir ermöglichen den Zugang zu Bildung für alle Altersgruppen, fördern den Austausch zwischen den Generationen und stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Nur durch eine breite Verankerung des lebenslangen Lernens kann eine zukunftsfähige Gesellschaft entstehen, die Jung und Alt in den Transformationsprozess integriert und eine gerechtere und nachhaltigere Zukunft sichert.
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Bild: Robina Weermeijer / Unsplash
09.01.2025 | Meena Stavesand
Epilepsie verstehen: Neurochirurg spricht über Ursachen, Diagnose und Therapiemöglichkeiten
Epilepsie ist eine komplexe neurologische Erkrankung, die bei etwa 0,5 bis 1 Prozent der Menschen im Laufe ihres Lebens auftritt. Bei Kindern ist es die häufigste neurologische Erkrankung. Doch nicht jeder Anfall, der umgangssprachlich oft als „Krampfanfall“ bezeichnet wird, weist auf eine Epilepsie hin. Manchmal spiegeln Anfälle nur eine vorübergehende Störung des Gehirns wider und können durch Faktoren wie Schlafentzug, niedrigen Blutzucker oder andere medizinische Ursachen ausgelöst werden.
Tatsächlich erlebt etwa jeder zehnte Mensch in seinem Leben einen einmaligen Anfall, ohne dass eine erhöhte Anfallsbereitschaft vorliegt. Dennoch ist es wichtig, wiederkehrende Anfälle ernst zu nehmen und eine genaue Diagnose zu stellen, um die richtige Therapie zu finden.
Dieser Einblick zeigt, wie vielfältig die Ursachen und Symptome sein können und warum eine frühzeitige Diagnose entscheidend für den Umgang mit der Krankheit ist. Wir haben mit Dr. med. Thomas Sauvigny, Geschäftsführender Oberarzt und Leiter der Epilepsiechirurgie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), über die Erkrankung gesprochen. Weiterführende Informationen zu Epilepsie gibt es auch im UKE-Lernangebot „Medizin. Online. Verstehen“.
Was ist Epilepsie und wie äußert sie sich?
Dr. Thomas Sauvigny: Obwohl wir eine Vorstellung davon haben, was Epilepsie ist, ist eine genaue Definition schwierig, da sie entweder relativ vage ist oder möglicherweise Dinge ausschließt, die doch vorhanden sind. Eine pragmatische Definition: Epilepsie ist eine Erkrankung des Gehirns, die durch eine elektrische Fehlfunktion gekennzeichnet ist. Es liegt also eine elektrische Überaktivität von Nervenzellen vor, die zu epileptischen Anfällen führt. Wenn man mehrere epileptische Anfälle hat, kann man in der Regel sagen, dass man wahrscheinlich eine Epilepsie hat.
Wie erkennt man epileptische Anfälle?
Dr. Thomas Sauvigny: Epileptische Anfälle können sich sehr unterschiedlich äußern. Es kann sich um eine Bewusstlosigkeit mit motorischen Entäußerungen handeln, d.h. Arme oder Beine fangen an zu schlagen, obwohl man nicht bei Bewusstsein ist. Es kann aber auch sein, dass man ein komisches Gefühl im Bauch hat oder Stimmen hört. All das kann ein epileptischer Anfall sein. Deshalb gibt es viele Definitionen oder Beschreibungen von epileptischen Anfällen.
Gemeinsam ist all diesen epileptischen Anfällen, dass es sich um eine Überaktivität oder Fehlfunktion von Nervenzellen handelt. Dies kann neurobiologische, kognitive und soziale Folgen haben. Diese Komplexität macht eine allgemeine Definition schwierig. Das ist auch der Grund, warum wir in der Diagnostik auf Klassifikationen zurückgreifen: Wenn wir die Ursache im Gehirn finden oder wenn wir gemessen haben, dass der Patient oder die Patientin Anfälle hat, dann können wir sagen: Das ist eine Epilepsie.

Anfälle können sich auch durch ungewöhnliche Verhaltensweisen zeigen, wie plötzliche Lachanfälle, was besonders bei einer bestimmten Epilepsieform bei Kindern vorkommt.
Dr. Thomas Sauvigny, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Reicht ein einziger epileptischer Anfall aus, um eine Epilepsie zu diagnostizieren?
Dr. Thomas Sauvigny: Wenn wir zum Beispiel feststellen, dass im Kopf eine strukturelle Läsion (eine Schädigung, Verletzung oder Störung der Struktur), z.B. ein Tumor oder etwas ähnliches vorliegt, dann ist das Risiko, dass weitere Anfälle auftreten, relativ hoch. Ein in der Literatur vorgeschlagener Wert dafür ist 60 Prozent. Wir sagen also: Wenn das Risiko, weitere epileptische Anfälle zu bekommen, größer als 60 Prozent ist, dann diagnostizieren wir eine Epilepsie.
Das heißt im Umkehrschluss: Wenn jemand einen einzigen Anfall hat, der zum Beispiel durch Schlafentzug ausgelöst wurde, dann erfüllt das nicht die Kriterien zur Diagnose einer Epilepsie. Wenn wir keine andere Ursache im Kopf finden, zum Beispiel keine Läsion, dann sagen wir: Das ist keine Epilepsie, sondern ein einmaliges Ereignis – provoziert durch zu wenig Schlaf. Die Wahrscheinlichkeit, dass es wieder vorkommt, ist gering, wenn man nicht wieder zu wenig schläft.
Wenn man aber z.B. einen Hirntumor hat und ein oder zwei hierdurch ausgelöste Anfälle, dann reicht dies aus, um zu sagen, dass man eine Epilepsie aufgrund des Hirntumors hat. Wir gehen dann davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit für weitere Anfälle relativ hoch ist, wenn die Ursache nicht behandelt wird. Das heißt: Ein Anfall ist nicht unbedingt gleich Epilepsie, aber man muss der Ursache nachgehen.
Was sind mögliche erste Anzeichen oder Symptome?
Dr. Thomas Sauvigny: Die Diagnose von Anfällen wird besonders herausfordernd, wenn sie sich nicht als klassischer bilateraler tonisch-klonischer Anfall zeigen – jene Form, die früher als großer Krampfanfall (Grand-Mal) bekannt war, einhergehend mit Bewusstseinsstörung und ausgeprägten motorischen Entäußerungen. Solche Anfälle werden in der Regel rasch als epileptisch erkannt oder zumindest vermutet. Doch es gibt auch Formen, die nur bestimmte Gehirnregionen betreffen, sogenannte fokale Anfälle, die sich sehr vielfältig und manchmal nur sehr diskret äußernd. Daher können die geschilderten Symptome oft fehlgedeutet werden. Prinzipiell sind immer Differentialdiagnosen (z.B. auch Synkopen) bei der Erstdiagnose zu berücksichtigen
Insbesondere bei Kleinkindern und Säuglingen ist die Erkennung von Anfällen oft schwierig, da sie sich auf vielfältige Weise äußern können – etwa durch nur sehr kurze Bewusstseinsverluste, Sprachstörungen oder das Auftreten einer sogenannten Aura, das zum Beispiel als ein ungewöhnliches Gefühl in der Bauchregion beschrieben wird. Manche Anfälle treten ausschließlich im Schlaf auf und bleiben unbemerkt, bis am nächsten Tag Symptome wie Muskelkater, Erschöpfung oder kognitive Einschränkungen auffallen. Anfälle können sich auch durch ungewöhnliche Verhaltensweisen zeigen, wie plötzliche Lachanfälle, was besonders bei einer bestimmten Epilepsieform bei Kindern vorkommt. Visuelle Phänomene, wie Flimmern oder Blitze, sind ebenfalls mögliche Anzeichen mancher Epilepsieformen.
Diese Vielseitigkeit macht die Erkennung von Anfällen besonders komplex. Da theoretisch jede normale Gehirnfunktion durch einen Anfall beeinträchtigt werden kann, gibt es unzählige Erscheinungsformen. Deshalb gibt es keine allgemeingültige oder pauschale Beschreibung eines Anfalls und auch unter Expert:innen herrscht häufig Uneinigkeit über die korrekte Benennung und Interpretation.
Gehen Betroffene dann relativ spät zum Arzt, weil sie die Symptome nicht als schwerwiegend wahrnehmen oder die Anfälle nicht bemerken, weil sie eben im Schlaf auftreten?
Dr. Thomas Sauvigny: Ja, das kann vorkommen. Natürlich gibt es Epilepsieformen, die sofort auffallen, entweder durch Begleiterkrankungen oder weil die Anfälle so eindeutig sind. Nicht selten bleiben Epilepsien aber auch jahrelang unbemerkt, weil die Symptome mit anderen Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen verwechselt werden. Manchmal dauert es Jahre, bis die richtige Diagnose gestellt und die genaue Ursache der Epilepsie gefunden wird.
Wird die Ursache einer Epilepsie immer gefunden?
Dr. Thomas Sauvigny: Es gibt Fälle, in denen die Ursache unklar ist. Früher sprach man von kryptogenen Epilepsien, wenn keine eindeutige Ursache gefunden werden konnte. Wir haben eine internationale Klassifikation der Epilepsien, die die Anfälle nach ihrer Entstehung einteilt:
- Fokale Anfälle, die nur in einem bestimmten Teil des Gehirns auftreten,
- generalisierte Anfälle, die das ganze Gehirn betreffen, und
- Anfälle unbekannter Ursache.
Die Ursachen der Epilepsie sind einerseits genetische Faktoren und/oder strukturelle Veränderungen im Gehirn. Andererseits gibt es auch infektiöse oder autoimmune Ursachen um die häufigsten zu nennen.
Wie läuft eine Diagnose ab? Muss immer ein MRT gemacht werden?
Dr. Thomas Sauvigny: Ein MRT ist ein wichtiger Bestandteil der Diagnostik, aber erst der zweite oder dritte Schritt. Der erste Schritt ist immer die Anamnese, also die genaue Befragung der Betroffenen und deren Angehörigen. Dann macht man in der Regel ein Elektroenzephalogramm (EEG), um die Hirnströme zu messen. Ein kurzes EEG zeigt jedoch nicht immer Anfälle. Deshalb kann es notwendig sein, das EEG über mehrere Tage durchzuführen und die Patientinnen und Patienten mit Videokameras zu überwachen. Oft bringen auch Angehörige Handyvideos mit, die helfen, die Anfälle zu dokumentieren. Es folgen weitere Untersuchungen wie eine Kernspintomographie oder eine Nervenwasseranalyse, um die Ursache der Anfälle herauszufinden. Darüber hinaus gibt es in Epilepsiezentren noch viele weitere, spezielle Untersuchungen, die durchgeführt werden können.
Wie sieht die Therapie aus?
Dr. Thomas Sauvigny: Das hängt von der Art der Epilepsie ab. Die Haupttherapie besteht zunächst aus Medikamenten, die die Anfälle unterdrücken. Liegt eine strukturelle Ursache wie ein Tumor oder eine Fehlbildung vor, kommt oft auch eine Operation in Frage. Es gibt auch neurochirurgische Eingriffe, bei denen Hirnregionen stimuliert werden, um die Anfallsbereitschaft zu verringern, z. B. der Vagusnervstimulator. Bei bestimmten Epilepsien helfen auch Diäten oder experimentelle Therapien.
Epilepsie wirkt sich mitunter stark auf das soziale Leben der Betroffenen aus. Ein LKW-Fahrer, der an Epilepsie erkrankt, kann beispielsweise seinen Beruf nicht mehr ausüben.
Dr. Thomas Sauvigny, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Es geht also in erster Linie darum, die Anfälle etwa durch Medikamente zu reduzieren?
Dr. Thomas Sauvigny: Genau, wir wollen die Anfälle durch Medikamente so weit wie möglich abschwächen, reduzieren oder wenn möglich ganz verhindern. Leider gelingt uns das bei etwa einem Drittel der Patientinnen und Patienten nicht, das heißt, es kommt trotz der Medikamente zu Anfällen. Aber umgekehrt: Bei vielen Betroffenen gelingt es, die Anfälle zu unterdrücken. Das hängt von der Art der Epilepsie ab. Wichtig ist auch, dass bei bestimmten Anfallsformen, die generalisiert auftreten, ein relevantes Risiko besteht, an einem Anfall zu sterben (sog. SUDEP). Dies ist vergleichbar mit dem plötzlichen Kindstod. Das ist natürlich ein extremes Beispiel, aber es zeigt, dass Epilepsie keine ungefährliche Krankheit ist. Auch Anfälle, die nicht tödlich verlaufen, können das Gehirn weiter schädigen und die Krankheit verschlimmern. Deshalb sind Medikamente wichtig.
Darüber hinaus gibt es psychosoziale und neuropsychologische Behandlungsmöglichkeiten, denn die Krankheit wirkt sich mitunter stark auf das soziale Leben aus. Ein LKW-Fahrer, der an Epilepsie erkrankt, kann beispielsweise seinen Beruf nicht mehr ausüben. Das ist ein ganz anderes Problem als bei einem Vierjährigen, bei dem es dafür viel mehr um die kognitive Entwicklung geht. Es gibt also viele verschiedene Ansätze, die individuell angepasst werden.
Ist Epilepsie heilbar oder eine Krankheit, mit der man leben muss?
Dr. Thomas Sauvigny: Grundsätzlich ist Epilepsie heilbar, aber das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Bei manchen Patientinnen und Patienten kann zum Beispiel ein Blutschwämmchen im Gehirn entfernt werden, und danach treten keine Anfälle mehr auf. Nach einigen Jahren können dann die Medikamente reduziert oder ganz abgesetzt werden. In solchen Fällen spricht man von Heilung. Betrachtet man aber alle Epilepsiepatienten, so handelt es sich in den meisten Fällen um eine chronische Erkrankung, die einen ein Leben lang begleitet. Das heißt nicht, dass man immer Anfälle hat, aber viele Menschen müssen ihr Leben lang Medikamente einnehmen, um anfallsfrei zu bleiben.
Spielen Stress, Ernährung und andere Faktoren eine Rolle bei Epilepsie?
Dr. Thomas Sauvigny: Stress an sich verursacht kausal keine Epilepsie, aber er kann die Wahrscheinlichkeit eines Anfalls erhöhen, insbesondere wenn andere Faktoren wie Schlafmangel oder Alkoholkonsum hinzukommen. Diese Faktoren beeinflussen die Erregbarkeit der Nervenzellen und können bei einer bestehenden Epilepsie einen Anfall auslösen. Daher ist es wichtig, auf diese Dinge zu achten, um das Risiko zu verringern. Zum Thema Ernährung: Eine spezielle Diät kann bei bestimmten Epilepsieformen helfen, ist aber nicht bei allen Epilepsieformen sinnvoll.
Wie gehen Menschen mit Epilepsie mit psychischen oder sozialen Faktoren um? Das ist sicher eine große Belastung.
Dr. Thomas Sauvigny: Ja, das ist ein großes Thema. Epilepsie ist eine chronische Erkrankung, die das soziale Leben stark beeinträchtigen kann. Vor einigen hundert Jahren galten Menschen mit Epilepsie noch als vom Teufel besessen oder schwachsinnig. Diese Stigmatisierung hat sich geändert, aber Epilepsie ist immer noch eine Krankheit, die mit Vorurteilen behaftet ist. Für Menschen, die beruflich eingeschränkt sind, wie zum Beispiel Lastwagenfahrer, bedeutet die Diagnose oft das Ende ihrer bisherigen Tätigkeit. Bei Kindern geht es vor allem um die schulische und kognitive Entwicklung. Viele Patientinnen und Patienten leiden auch an psychischen Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen, die entweder durch die Epilepsie selbst oder durch die Belastungen der Erkrankung verursacht werden. Es gibt eine hohe Rate an sogenannten Komorbiditäten, also dem gleichzeitigen Auftreten mehrerer Erkrankungen.

Epilepsie.Online.Verstehen.
Epilepsien sind eine Gruppe verschiedener Erkrankungen des Gehirns, deren Gemeinsamkeit in einer Übererregbarkeit von Nervenzellen des zentralen Nervensystems besteht. Oft fehlt jedoch der Zugang zu verlässlichen Informationen bezüglich Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten.
Welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es?
Dr. Thomas Sauvigny: Es gibt zahlreiche Selbsthilfegruppen, die sehr hilfreich sind. Wichtige Anlaufstellen sind auch die spezialisierten Epilepsiezentren. Das Epilepsiezentrum Hamburg zum Beispiel vereint drei Krankenhäuser: Das Evangelische Krankenhaus Alsterdorf, das UKE und das Kinderkrankenhaus Wilhelmstift. Dort gibt es auch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die sich um die Vereinbarkeit von Epilepsie und Beruf kümmern, und spezielle Arbeitsplätze für Menschen mit Epilepsie. Diese Zentren bieten ebenfalls neuropsychologische Betreuung und Beratung für den Alltag an.
Ein Ausblick: Gibt es derzeit innovative Behandlungsmethoden oder Ansätze, die noch nicht weit verbreitet sind?
Dr. Thomas Sauvigny: Es gibt viele neue Ansätze, die sich in der Entwicklung befinden – sowohl neue Medikamente wie auch innovative Therapieverfahren wie z.B. gentherapeutische Ansätze. Auch in der Neurochirurgie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten viel getan. Komplexere Fälle können heute besser operiert werden. Die Diagnostik hat sich durch invasive Methoden wie das Einsetzen von Elektroden ins Gehirn verbessert. Ein weiteres spannendes Gebiet ist die Genetik. In den vergangenen Jahren wurden immer mehr genetische Ursachen für Epilepsien entdeckt, auch für solche, bei denen man bisher nicht von genetischen Ursachen ausging. In Zukunft wird es wahrscheinlich neue medikamentöse Ansätze geben, die gezielt auf bestimmte Mutationen wirken.
Forschung wirkt. Je mehr wir über die Krankheit wissen, desto besser können wir sie behandeln.
Dr. Thomas Sauvigny: Ja, generell hat die genetische Forschung in den vergangenen zehn Jahren große Fortschritte gemacht. Es gibt aber auch viele andere Bereiche, in denen sich einiges getan hat, zum Beispiel in der invasiven und bildgebenden Diagnostik. Es ist ein Zusammenspiel verschiedener Disziplinen, die dazu beitragen, dass wir die Krankheit besser verstehen und behandeln können.
Über Dr. Thomas Sauvigny

Dr. Thomas Sauvigny ist Facharzt für Neurochirurgie sowie geschäftsführender Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Sein Medizinstudium hat der gebürtige Koblenzer an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen absolviert. Seit 2012 ist Dr. Thomas Sauvigny am UKE tätig.

So sieht eine Dan Bau aus.
06.01.2025 | Katrin Schröder
Dan Bau: Ein Instrument aus Vietnam mit nur einer Saite, aber faszinierendem Klang
Dass die Lernangebote der HOOU vielfältig sind, wird spätestens bei einem Blick auf das folgende, englischsprachige Lernangebot klar: „Learning Dan Bau“. Und nein, hier wird nichts gebaut, sondern eine Einführung in das Spielen des wohl bedeutendsten Musikinstruments Vietnams gegeben.
Tam Thi Pham ist Multimedia-Komponistin und hat sich mit einem spannenden vietnamesischen Instrument auseinandergesetzt. Die Dan Bau hat nur eine Saite, erzeugt aber dennoch vielfältige Töne. In unserem Artikel erklären wir, wie die Dan Bau aufgebaut ist und wie man sie spielt. Außerdem führen wir dich zu einer Playlist, die den einzigartigen Klang verdeutlicht. Reinhören lohnt sich!
Erinnert an einen Kürbis
Die Dan Bau (auf Vietnamesisch: Đàn bầu) misst insgesamt rund einen Meter und wird meist aus Holz gefertigt. In selteneren Fällen besteht das Instrument aus Bambus. Die Form erinnert ein wenig an einen langen Kürbis. Manche Instrumente sind zudem mit Blumen und traditionellen Mustern verziert. Charakteristisch für das Aussehen der Dan Bau ist auch der Stab, der sich seitlich am Instrument befindet. Er hat einen maßgeblichen Einfluss auf die erzeugte Melodie. Dazu aber später mehr.

Mit Dozentin Ngo Tra My die Dan Bau kennen lernen
Tam Thi Pham, Studentin für Multimedia Composition an der Hochschule für Musik und Theater (HfMT), leitet das von ihr initiierte Lernangebot über die Dan Bau. Gemeinsam mit HOOU@HfMT-Projektkoordinator Goran Lazarevic übersetzte sie bisher unbekannte Fachbegriffe aus dem vietnamesischen ins Englische. Mit ihrer Arbeit leisten sie einen wichtigen Teil für eine sichtbarere vietnamesische Kultur und ermöglichen damit allen Interessierten einen leichteren Zugang zu einem faszinierendem Instrument.
Momentan enthält das Lernangebot sechs verschiedene Videoeinheiten. In diesen Einheiten führt uns Ngo Tra My, Dozentin an der Vietnam Academy of Music, an die grundlegenden Techniken und Besonderheiten des Instruments heran. Als erstes erfahren wir, dass man Dan Bau in drei unterschiedlichen Positionen spielen kann: Im Stehen, Sitzen oder auf dem Boden hockend. Vor dem Spielen müssen wir die Saite zunächst auf ein „C“ stimmen. DIE Saite? Richtig – die Dan Bau hat nur eine Saite. Doch eintönig klingt das Instrument nicht. Die Saitenspannung verändert man durch das Bewegen eines elastischen Stabes, den man mit der linken Hand bedient. Im Zusammenspiel mit der Zupfposition können wir so die Tonhöhe verändern und sehr unterschiedliche, gleitende Töne erzeugen. Zum Zupfen der Saite nutzt man, ähnlich wie bei einer Gitarre, eine Art Plektron – ein zurechtgeschnittenes Stück Hartholz.

Der Ton macht die Musik
Anders als einige andere Saiteninstrumente hat die Dan Bau kein Griffbrett, an dem sich die Spielenden orientieren können, um die richtigen Töne zu treffen. Zudem verändert die Handgröße die Abstände auf der Saite. Ngo Tra My empfiehlt deshalb, dass sich jede*r Spieler*in vor dem Spielen die sechs wichtigsten Handpositionen auf dem Instrument markieren sollte. Daraus ergibt sich auch schon eine erste gute Übung: Die Grundtöne treffen und damit eine kleine Melodie erzeugen. Vier verschiedene Aufgaben stehen in dem Lernangebot dafür bereit.
Vielfältige Klänge durch veränderte Spannung
Wenn die Grundtöne einmal sitzen, gilt es, den Stab richtig einzusetzen. Aber Vorsicht! Hier braucht es Gefühl, denn biegt man den Stab etwas zu sehr, dann kann die Saite reißen. In einem angenehmen Erklärtempo zeigt uns Ngo Tra My in den folgenden Videoeinheiten, wie vielfältig die Dan Bau klingen kann und welche Techniken wichtig sind. Hilfreich sind dabei auch die eingeblendeten Noten, die das Gespielte visualisieren. Wenn man alle sechs Videolektionen durcharbeitet und die dazugehörigen Übungen beachtet, dann hat man am Ende des Kurses einen schönen Einblick in das Spielen eines faszinierenden Instruments gewonnen.
Es braucht keine Vorkenntnisse, um das Instrument zu verstehen
„Learning Dan Bau“ ist ein interessantes Lernangebot für alle Musikbegeisterten, die Lust haben, sich an ungewohnten Klängen zu versuchen. Die Erklärvideos sind in einem guten Tempo gehalten und holen auch Interessierte ohne Vorkenntnisse ab. Hilfreich ist es, Noten lesen zu können, und wichtig ist es auch, den Erklärungen mit englischen Untertiteln folgen zu können. Zudem sollte man natürlich eine Dan Bau zur Verfügung haben, um das Spielen auch praktisch üben zu können. Wer also Lust darauf hat in eine andere Kultur einzutauchen – denn Musik ist ein wunderbarer Ausgangspunkt, um die vietnamesische Kultur kennen zu lernen – dem sei das Lernangebot „Learning Dan Bau“ ans Herz gelegt.
Playlist: Lausche der Musik
Mit dem Lernangebot zu diesem spannenden Instrument möchten wir auch verschiedene vietnamesische Volkslieder und traditionelle Lieder vorstellen, damit du dich mit der vietnamesischen Musik vertraut machen kannst. Das Anhören der Musik wird dir helfen, das Dan Bau besser zu verstehen und eventuell auch selbst zu spielen.
Das Lied „Con duyen“ (übersetzt: Der Faden des Schicksals ist noch hier) ist ein Quan Ho-Volkslied aus Bac Ninh, einer Region in Nordvietnam. In dem Song geht es um Verliebte, die sich auffordern, die Chance zu ergreifen und um ihre Hand anzuhalten und die Jugend nicht unbemerkt an sich vorüberziehen zu lassen. Die Musik ist charmant, jugendlich und fröhlich. Es wird gespielt von Ngo Tra My.
Hier geht es zu weiteren Liedern in der Playlist.

Bild: MMKH/KI-generiert
02.01.2025 | Meena Stavesand
Ethik-Professor über KI: Warum wir als Gesellschaft Technologien besser verstehen sollten
In den Maschinenraum der KI-Entwicklung möchte Prof. Dr. Maximilian Kiener die Nutzerinnen und Nutzer seines Lernangebots „Ethics by Design“ entführen. Warum es der Ethik-Professor und Leiter des „Institute for Ethics in Technology“ an der TU Hamburg für nötig hält, dass mehr Menschen verstehen, wie KI funktioniert und wie sie unser Leben beeinflusst, erklärt er uns im Interview. Spannende Themenfelder sind für ihn: Daten, Demokratie, Fairness, Verantwortung und Sicherheit. Aber es geht auch um die existenzielle Frage, welche Rolle eigentlich der Mensch noch spielt, wenn immer mehr Aufgaben an die KI gehen.
Prof. Kiener, welche Frage beschäftigt Sie aktuell am meisten, wenn es um KI und Ethik geht?
Prof. Dr. Maximilian Kiener: Ich sehe, wie leistungsfähig neue KI-Systeme sind. Es sind unheimlich komplexe Systeme, die mit uns sprechen, sie ersetzen teilweise sogar unsere menschlichen Ärztinnen und Ärzte. Und die Entwicklung zeigt nur nach oben. Ich frage mich also: Wie können wir es schaffen, dass diese so leistungsfähigen KI-Systeme ethischen Standards genügen, dass Macht und Werte Hand in Hand gehen können, dass wir eine technologische Innovation haben, die nachhaltig im doppelten Wortsinn ist? Damit meine ich, dass sie nachhaltig ist, weil es möglich ist, sie in die Zukunft zu tragen, aber auch, weil sie es wert ist, sie in die Zukunft zu tragen.
Ethische Fragestellungen sollten also bei der KI-Entwicklung direkt mitgedacht werden?
Kiener: Ja, keine Technologie ist vollkommen neutral. Es gibt immer Hintergrund- oder Wertannahmen, die die Technologie beeinflussen. Künstliche Intelligenz ist hier keine Ausnahme. Im Gegenteil, KI scheint in besonderem Maße durch ethische Weichenstellungen formbar. Wir müssen uns daher der Frage annehmen, wie wir Ethik effektiv in die KI integrieren.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Kiener: Wenn KI in der Arbeitswelt beim Einstellungsprozess zum Einsatz kommt, müssen wir dafür sorgen, dass bestimmte Personengruppen nicht systematisch ausgeschlossen werden. Wenn KI in autonomen Fahrzeugen eingesetzt wird, müssen wir Sicherheit von Anfang an mitdenken. Und wenn KI anfängt, unseren gesellschaftlichen Diskurs zu beeinflussen, müssen wir über das Verhältnis von Technologie und Demokratie nachdenken.
Wie kann das gelingen?
Kiener: Ethik muss als Disziplin von der bloßen Resultatsbewertung in eine Prozessbegleitung der KI-Entwicklung überführt werden. Ethik soll nicht der Zeigefinger oder der Zaungast sein, der sagt: „Nein, das dürft ihr nicht!“ Oder: „Ja, das geht schon.“ Sie soll die Begleitung in allen Entwicklungsschritten einer KI sein; begonnen mit der Frage, wofür brauchen wir diesen Algorithmus überhaupt? Was wollen wir damit erreichen? Welche Daten wollen wir sammeln? Wie dürfen wir diese Daten eigentlich sammeln? Wie können wir testen, ob ein KI System nicht nur einer Personengruppe zugute kommt, sondern allen?
Wie kann man sich diesen Prozess bildlich vorstellen?
Kiener: Diesen Prozess kann man sich ein bisschen wie die Zubereitung eines guten Essens vorstellen. Es gibt verschiedene Zutaten, bestimmte Zubereitungsprozesse: Man schneidet etwas, man rührt um, man knetet und schiebt vielleicht auch etwas in den Ofen. Und im Grunde entstehen bei jedem Schritt andere oder neue Fragen. So ist es auch in der Technologie: die verschiedenen „Zubereitungsschritte“ in der Küche entsprechen verschiedenen Entwicklungsstadien in der KI-Entwicklung. Und auch in letzterer gibt es so etwas wie Zutaten, beispielsweise Daten, und Verarbeitungsprozesse wie etwa maschinelles Lernen. Exzellente Technologie zeigt ethische Sensibilität und Knowhow in all diesen Stadien, ebenso wie ein Maître de Cuisine den kulinarischen Prozess allumfassend versteht.

Stichwort: Generative KI. Sehr viele Menschen können sie unmittelbar erleben. Dennoch gibt es Schlagzeilen wegen diskriminierender Antworten. Ethische Fragestellungen wurden wohl zu wenig mitgedacht. Wie lässt sich das beheben?
Kiener: Die Zugänglichkeit zu dieser Technologie sehe ich zunächst positiv. Während es vor wenigen Jahren für viele Menschen noch Science-Fiction war, können wir nun alle im Alltag erleben, welche Leistungen und welchen Mehrwert KI leisten kann. Aber es ist eben auch eine Herausforderung und mitunter ein Spiegel bestehender gesellschaftlicher Vorurteile und Probleme. Wir müssen uns in einem umfassenden gesellschaftlichen Diskurs fragen, wie wir neben den Ressourcen akademischer Ethik auch die Erfahrung der Menschen mit dieser Technologie als Feedback effektiv nutzen können, um – wie wir das an der TUHH sehen – auch Technik für den Menschen zu schaffen.
Wie finden Sie die Entwicklung von KI generell?
Kiener: Insgesamt sehe ich die Entwicklung von KI positiv, es ist eine Art Demokratisierung der Technologie, weil viele Menschen einen Zugang dazu bekommen. Aber es geht auch eine sehr große Macht von Unternehmen aus. Diese Technologien werden oftmals nicht nur, oder nicht einmal primär, an Universitäten oder öffentlichen Forschungseinrichtungen entwickelt, sondern von einer Handvoll sehr mächtiger Technologieunternehmen. Von den zehn größten Unternehmen der Welt spielen sieben bei der KI-Entwicklung mit. Einige sprechen daher bereits von „privaten Supermächten“, die dann beispielsweise im Bereich Social Media bestimmen könnten, was eigentlich als Meinungsfreiheit bei uns zählt, was man sagen darf. Doch das sind Aufgaben, die klassischerweise dem Staat zukommen.
Wie könnte das gelingen?
Kiener: Ein wichtiger Schritt sind sicherlich Regulierungen. In diesem Jahr gab es beispielsweise die Verabschiedung des AI Act der EU. Was ich ebenfalls sehr begrüße, ist die Bemühung, die Erklärbarkeit von KI-Systemen zu stärken und auch den Menschen Rechte zu geben, wenn KI-Systeme in wichtige Entscheidungen involviert sind, also etwa in Fragen, ob ich den Job, den Kredit oder das Krankenhausbett bekomme.
Sie meinen eine höhere Transparenz der KI-Entscheidungen, also dass mehr Menschen einen Einblick bekommen, was da hinter den verschlossenen Türen der Technologieunternehmen passiert?
Kiener: Ja, so könnte man das sagen. Allerdings könnte der Begriff Transparenz in diesem Zusammenhang oftmals nur darauf hinweisen, dass es eine Auskunft darüber gibt, dass KI verwendet wird. „Erklärbarkeit“ geht einen Schritt weiter und versucht zu erläutern, wie die konkreten Entscheidungen getroffen werden.
Wie können wir Ethik in die Technologie bringen? Was ist Ethik eigentlich genau?
Kiener: Ethik ist eine akademische Disziplin, die Fragen danach stellt, wie wir gut und richtig handeln, wie wir gut leben wollen als Individuum und als Gemeinschaft. Es geht dabei aber nicht darum, nur Checklisten abzuhaken oder Kommissionen einzusetzen. Es ist eine wirkliche Reflexion: gemeinsam nachdenken – mit den Fakten, die wir haben, und mit den Werten, denen wir uns verbunden fühlen wie Freiheit und Gleichheit. Aus den Schlussfolgerungen daraus ergeben sich Empfehlungen für den Umgang mit Technologie. Dabei gibt es einige Kernthemen in der KI, die uns vor Herausforderungen stellen.
Können Sie uns ein Beispiel geben?
Kiener: Im Kern vieler Fragen gibt es ein Datenproblem, da KI im Training oftmals sehr viele Daten benötigt. Meistens werden wir gefragt: Stimmen Sie der Datennutzung zu? Dies geschieht in vielen Interaktionen im Internet. Doch niemand liest wohl je alle ‚terms and conditions‘ wirklich durch. Also müssen wir uns die Frage stellen, ob diese Art der Zustimmung noch ein geeignetes Instrument ist, unsere Daten hinreichend zu schützen oder ob wir diesen Bereich täglicher Praxis grundlegend neu bewerten müssen. Wir müssen uns also damit beschäftigen, wie wir unsere personenbezogenen Daten schützen, die die KI oftmals braucht, oder gegebenenfalls die Bereiche der KI beschränken. Eine weitere Herausforderung ist, dass die Verarbeitung und Nutzung großer Datenmengen, einschließlich personenbezogener Daten, nicht nur unser individuelles Leben betrifft, sondern auch unsere Demokratie angreifen kann.
Der Cambridge-Analytica-Skandal hat gezeigt, dass Datenmissbrauch auch zum Risiko für demokratische Wahlen werden kann. Was passiert also mit unserer Demokratie, mit unserer Gesellschaft, wenn Daten es ermöglichen, Verhalten präzise vorauszusagen und ebenso präzise Einfluss auf Wählerverhalten zu nehmen? Welche Art von Macht entsteht hier und entscheidet diese über unser Zusammenleben als Gesellschaft? Ein weiterer schwieriger Bereich ist die Frage nach der Fairness; auch die beste KI wird nicht perfekt sein. Immer dort, wo die KI auf Grundlage vergangener Daten lernt, lernt sie auch die bestehenden Vorurteile in unserer Gesellschaft, führt diese fort oder verschärft sie sogar.

Wir haben also das Problem mit den Daten und einer möglichen Einflussnahme auf unsere Demokratie und die kaum vorhandene Fairness von KI-Systemen, weil sie zu viele diskriminierende Daten enthält. Gibt es einen weiteren Punkt?
Kiener: Ein zentrales Element ist für mich die Frage der Verantwortung. Gerade weil KI so viele Bereiche unseres Lebens betreffen wird, ist es wichtig, dass die Verteilung der Verantwortung klar geregelt ist. Ein Aspekt der Verantwortung erscheint mir dabei besonders wichtig, nämlich der des Ablegens von Rechenschaft. Entwickler:innen und Unternehmen, aber auch Politiker:innen und Nutzer:innen müssen Klarheit darüber haben, welche Pflichten sie bei der Entwicklung, Regulierung und Nutzung von KI haben und inwieweit sie anderen dafür Rechenschaft schuldig sind.
Das stimmt. Dann geht es um sehr existenzielle Fragen.
Kiener: Ja. Was macht uns Menschen eigentlich aus? KI erledigt viele Aufgaben für uns. Dennoch sind Menschen immer noch wichtig. Worin aber genau besteht das, was uns als Menschen ausmacht? Ist es Kreativität, Empathie, Moralität? Und wie können wir diese Aspekte im technologischen Fortschritt erhalten und weiterentwickeln?
Sie haben ein Lernangebot für die HOOU konzipiert. „Ethics by Design“ dreht sich auch um KI. Worum geht es?
Kiener: „Ethics by Design“ ist der Versuch, Ethik in alle Entwicklungsphasen leistungsstarker KI zu integrieren. In unserem Lehrangebot zeigen wir, wie das an verschiedenen Punkten möglich ist, welche Gestaltungsspielräume wir in der Entwicklung verschiedener Technologien haben können, also auch in welcher Beziehung Regulation und Innovation stehen.

Ethics by Design
Learn why ethics must be part of the technology development process from the start
Wie hilft Ihr Lernangebot dabei?
Kiener: Wir haben Szenarien, die die Lernenden aus ihrem Alltag kennen und in unserem Lehrangebot noch einmal aus ethischer Perspektive durchspielen können. Dies könnte beispielsweise unsere Nutzung von Smartphones betreffen, wo wir oft der Sammlung von Daten zustimmen, oder auch unsere Interaktion mit ChatGPT. Wir beginnen mit Bekanntem und führen die Lernenden sozusagen in den „Maschinenraum“ der KI, also in die Entwicklung, und zeigen, wie es eigentlich zu den uns bekannten Situationen gekommen ist, ob diese so sein müssen und wie wir über mögliche Alternativen ethisch nachdenken können. Im Grunde ist es wie eine Dokumentation über Nahrung. Wir essen jeden Tag, aber wir wissen nicht genau, wie unser Essen eigentlich hergestellt wird. Aber wenn wir es wissen, essen wir bewusster. Wir wollen also auch hier ein größeres Bewusstsein für die Vorgänge der KI schaffen.
Unsere Lerninhalte gehen über das bloße Lesen und Konsumieren hinaus. Sie ermöglichen aktives Entscheiden in konkreten Fällen und machen so die Gestaltungsmöglichkeiten in der Technologie erlebbar.
Sie sind als Ethik-Professor neu an der TU Hamburg und beschäftigen sich dort mit dem Zusammenspiel von Technologie und Ethik. Was wäre Ihre Idealvorstellung für dieses Feld?
Kiener: Meine große Hoffnung ist, Ethik zum Innovationsmotor zu machen. Ich wünsche mir, dass Ethik es schafft, Technologie nachhaltig voranzutreiben und dabei unsere Werte reflektiert. Ich bin ebenso gespannt auf die zukünftige Wechselwirkung zwischen Ethik und Technologie, besonders inwiefern Erkenntnisse eines Bereichs den Fortschritt im jeweils anderen beeinflussen können.
Zur Person:
Prof. Dr. Maximilian Kiener ist Juniorprofessor für Philosophie und Ethik in der Technik an der TU Hamburg, wo er das Institut für Ethik in der Technik leitet. Er hat sich auf Moral- und Rechtsphilosophie spezialisiert, mit einem besonderen Fokus auf Einwilligung, Verantwortung und KI. Außerdem ist er assoziiertes Mitglied der Philosophischen Fakultät der Universität Oxford, an der er von 2015 bis 2022 tätig war, sowie assoziierter Forschungsstipendiat am Institut für Ethik der Künstlichen Intelligenz in Oxford. Zuvor erwarb er den BPhil (2017) und DPhil (PhD / 2019) in Philosophie an der University of Oxford und arbeitete als Extraordinary Junior Research Fellow (2019-2021) und als Leverhulme Early Career Fellow in Oxford (2021-2022). Neben seiner akademischen Forschung ist er auch als Ethikberater für politische Entscheidungsträger und Industriepartner tätig, insbesondere in den Bereichen digitale Kommunikation, gute medizinische Praxis und verantwortungsvolle künstliche Intelligenz.

Bild: Tim Mossholder/Unsplash
30.12.2024 | Meena Stavesand
Nutze das Jahr 2025 und lerne für mehr Möglichkeiten: Verwandle Neugier in Können
Bereit das Jahr 2025? Werde kreative, stärke deine Gesundheit und lass dich inspirieren. Denn bei uns findest du die passenden Angebote für deinen persönlichen Erfolg: Von hochwertigen Informationen über deine Gesundheit über motivierende Podcasts bis hin zu spannenden Events und Onlinekursen. Entdecke mit der HOOU vielfältige Möglichkeiten, die deine Gesundheit stärken, dir neue Fähigkeiten vermitteln und dich in deiner Entwicklung unterstützen.
Wir haben dir eine Auswahl unserer Podcasts und Onlinekurse zusammengestellt. Auf hoou.de findest du noch viele weitere Angebote, die sich 2025 voranbringen werden! Wissen auf einen Klick – das ist unser Motto.
Lerne mehr übers Lernen mit dem Podcast „Hamburg, was willst du wissen?“
Nutze im neuen Jahr die Chance, dein Wissen zu erweitern! Unser Podcast „Hamburg, was willst du wissen?“ der HAW Hamburg bringt dir spannende Themen und wertvolle Impulse aus der Perspektive von prominenten Hamburgerinnen und Hamburgern direkt ins Ohr. In den Gesprächen geht es um heimliche Lieblingsthemen genau wie um ungelebte Leidenschaften – aus Musik, Medizin, Technik, Politik oder Gesellschaft.

Hamburg, was willst du wissen? Enno Bunger
In der ersten Folge von "Hamburg, was willst du wissen?" spricht Christian Friedrich mit dem Musiker Enno Bunger über Gesundheit im (Musiker-)Alltag, Stadionhymnen und KI. Enno Bunger ist nicht nur ein herausragender Musiker, sondern auch ein sensibler Geschichtenerzähler, der sich in den letzten Jahren eine treue Zuhörendenschaft erspielt hat. Mit einer Mischung aus Pop, Indie und Singer-Songwriter-Elementen hat er sich in den letzten Jahren einen festen Platz in der deutschen Musikszene erarbeitet. Lange tat er das in Hamburg, inzwischen lebt und arbeitet er jedoch in Berlin. Ennos Texte sind geprägt von einer seltenen Offenheit, gepaart mit Witz und Emotionalität. Er scheut sich nicht, Probleme anzusprechen: Nachhaltigkeit und Klimakrise, psychische Gesundheit, der Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus, soziale Gerechtigkeit – diese Themen finden sich mal in seiner Musik, mal auch abseits der Bühne. In unserem Gespräch interessiert es uns besonders, wie Enno es schafft, sich kontinuierlich neues Wissen und Fähigkeiten anzueignen. Wir wollen auch darüber sprechen, welche Angebote der Hamburg Open Online University ihn inspirieren oder interessieren könnten. Außerdem möchten wir mehr über seinen persönlichen Lebens- und Lernweg erfahren – von den Anfängen bis hin zu den prägenden Momenten, die ihn zu dem Künstler gemacht haben, der er heute ist.
Medizin. Online. Verstehen.: Wir helfen dir, deinen Körper zu verstehen
Mit dem Lernangebot des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf erhältst du fachlich geprüfte und leicht verständliche Informationen zu Volkskrankheiten. Das UKE klärt auf: Habe ich Depressionen, wenn ich oft traurig bin? Bekomme ich früher oder später Diabetes, wenn meine Eltern daran leiden? Wie erkenne ich, ob jemand einen Schlaganfall erlitten hat, und was muss ich dann tun? Antworten gibt’s auf www.hoou-uke.de!

Medizin. Online. Verstehen.
In diesem Lernangebot stellen wir verschiedene Erkrankungen und deren Behandlung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) in Form von kurzen Filmen und informativen Texten auf einer projekteigenen Webseite vor.
Spielerischer Selbstversuch: Gedanken zum Zustand unserer Welt und alle Verknüpfungen
Die Hochschule für bildende Künste Hamburg lädt mit einer App zum spielerischen Selbstversuch ein. Sie richtet sich an alle, die über den Zustand unserer Welt nachdenken und verstehen wollen, wie die eigene Lebenswirklichkeit mit dem Klimawandel, den gesellschaftlichen und politischen Strukturen verbunden ist. Es geht um Aufgaben wie Warten, Entscheidungen abgeben oder Solidarität.

Schule der Folgenlosigkeit
Die Lern-App schafft auf spielerische Weise Situationen, in denen kollaborativ und selbstbestimmt zum Thema Folgenlosigkeit gelernt werden kann.
Begib dich auf eine musikalische Reise mit dem Ein-Saiten-Instrument Dan Bau aus Vietnam
Starte 2025 mit einer musikalischen Reise nach Fernost und lerne die Dan Bau kennen! Wir alle haben die Töne des wohl bekanntesten vietnamesischen Instruments schon einmal in Filmen oder Musikstücken gehört. Zu sehen bekommt man die Dan Bau, die nur einer Saite hat, selten. In unserem Online-Kurs der Hochschule für Musik und Theater lernst du mehr über dieses faszinierende Instrument. In Videos erklären wir dir den Aufbau und die Spieltechnik. Wir nehmen dich mit auf eine musikalische Expedition.

Learning Dan Bau
Do you want to learn about Dan Bau instrument? How to play it? Let us help you to do it!
Entdecke deine Umgebung neu und erfahre, wie Mechanik unseren Alltag prägt
Bei Mathematik und Physik winkst du schnell ab? Zu theoretisch? Das muss nicht sein. In unserem Online-Kurs der TU Hamburg zu Mechanik verstehst du schnell, wie Bewegung und Kräfte unseren Alltag prägen – und wie man das mathematisch herleiten kann. Wir zeigen dir mechanische Prinzipien spielerisch, so dass der Teil mit den Zahlen gar nicht mehr so schlimm ist. Eignet sich aber auch für Mathe-Profis. Also, tauche ein und erweitere dein Wissen!

Mechanik hautnah
Du willst die Welt um dich herum besser verstehen? Hier kannst du mit Beispielen und Experimenten lernen, wie Ingenieur:innen denken und arbeiten.

Bild: Joshua Rawson-Harris
27.12.2024 | Meena Stavesand
Nudging: Wie kleine Schubser im Supermarkt zu gesunder Ernährung führen können
Gesunde Ernährung beginnt oft mit kleinen Entscheidungen – doch was wäre, wenn uns diese Entscheidungen leichter gemacht würden? Dank Nudging, einem cleveren Konzept der Verhaltensökonomie, werden wir beispielsweise im Supermarkt subtil zu besseren Lebensmitteln „geschubst“. Erfahre, wie diese unsichtbaren Anstupser funktionieren und wie sie dir helfen können, gesündere Entscheidungen zu treffen – ganz ohne Zwang!
Stell dir vor, du gehst hungrig in den Supermarkt. Du schlenderst durch die Gänge, die Farben und Formen der verpackten Lebensmittel blitzen dir entgegen. Der Arbeitstag war lang und jetzt ist es ja auch schon fast Abend, heißt also: Du hast eigentlich keine Lust, aufwendig den Kochlöffel zu schwingen. Was tun?
Deine Hand wandert in Richtung Tiefkühlpizza – doch halt! Direkt hinter der Tiefkühltruhe steht in Augenhöhe ein schön arrangiertes Regal mit frischen Salaten. Der bunte Mix aus grünen Blättern, roten Tomaten und gelber Paprika sieht plötzlich doch recht verlockend aus. Du nimmst den Salat in die Hand und legst die Pizza wieder weg. Ein kleiner Anstupser – ein Nudge, wenn man so will – hat deine Entscheidung beeinflusst, ohne dass dir jemand gesagt hat, was du zu tun hast.
Trotz Schubser hast du immer die freie Wahl
Genau darum geht es beim Nudging. Es ist eine Art, das Verhalten von uns Konsumentinnen und Konsumenten sanft zu lenken, ohne die Wahlfreiheit zu nehmen. Du hast dich für die gesündere Option entschieden, weil sie passend präsentiert wurde: Sie war nicht nur leicht zugänglich, sondern sah auch noch ansprechend aus. Dabei hast du gar nicht gemerkt, dass du „gestupst“ wurdest – und genau das macht Nudging so spannend.
Im Kontext der Ernährung kann Nudging eine entscheidende Rolle spielen, um uns zu helfen, gesündere und nachhaltigere Entscheidungen zu treffen. Denn seien wir mal ehrlich: Wenn die gesunde Wahl die einfache Wahl ist, warum sollten wir sie nicht treffen? Genau darum geht es auch in unserem kostenlosen Lernangebot „Nudging in der Ernährung“ der HAW Hamburg, das das Prinzip detailliert erläutert. Es gibt auch bereits eine Fortsetzung des Kurses: Das Lernangebot „Nudging für mehr Gesundheit und Nachhaltigkeit“ ist die Weiterentwicklung und ein innovatives Schulungskonzept der HAW Hamburg, das Multiplikatoren:innen dabei unterstützt, Nudging als Maßnahme zur Stärkung der Gesundheit und Nachhaltigkeit einzusetzen.

„Nudging“ bedeutet im Englischen „anstupsen“. In der Wissenschaft stehen diese „Anstupser“ für kleine Impulse, die das Verhalten beeinflussen – leicht und unkompliziert. Nudging wirkt! Das haben Studien in den vergangenen zehn Jahren belegt. Eines ist dabei aber ganz wichtig: Solche Anstupser dürfen nur eingesetzt werden, um das Wohl des Einzelnen oder der Gesellschaft zu fördern.
Die Begründer des Nudging-Konzepts
Die Idee des Nudging wurde von zwei Experten auf ihrem Gebiet entwickelt: Richard Thaler, einem Wirtschaftsprofessor, und Cass Sunstein, einem Rechtswissenschaftler. Gemeinsam veröffentlichten sie 2008 das Buch Nudge – wie man kluge Entscheidungen anstößt, das weltweite Aufmerksamkeit erregte.
Ihre Arbeit brachte das Konzept auf die politische und wirtschaftliche Bühne, indem sie zeigten, wie Menschen oft irrational entscheiden, aber durch kleine „Schubser“ in die richtige Richtung gelenkt werden können – ohne Zwang, sondern durch subtile Änderungen in der Art, wie Entscheidungen präsentiert werden.
Was genau macht Nudging aus?
Nudging ist eine sanfte Verhaltenslenkung, die auf einigen zentralen Prinzipien basiert:
- Veränderung der Entscheidungsarchitektur:
Wie Optionen präsentiert werden, beeinflusst maßgeblich die Entscheidungen, die Menschen treffen. Ein Nudge sorgt dafür, dass die vorteilhaftere Option sichtbarer oder zugänglicher ist, ohne andere Optionen zu verbieten. - Keine Verbote:
Nudging muss ohne Verbote oder ökonomische Anreize auskommen. Eine Manipulation aus betriebswirtschaftlichen Gründen zugunsten von Unternehmen wird damit ausgeschlossen. - Erhalt der Wahlfreiheit:
Menschen werden beim Nudging zu nichts gezwungen, sie behalten alle Optionen. Der Nudge ist kein Zwang, sondern lediglich ein Schubs in eine bestimmte Richtung. - Einfachheit und Attraktivität:
Die gesündere oder nachhaltigere Option wird oft einfacher und attraktiver dargestellt. Das kann eine prominente Platzierung und eine ansprechende Verpackung sein, ohne das andere Optionen degradiert werden. - Ethisch und moralisch vertretbar:
Die Maßnahmen des Nudge dienen dem Wohl des Einzelnen oder der Gesellschaft. Sie sind ethisch und moralisch vertretbar.

Richard Thaler, Mitbegründer des Nudging-Konzepts, wurde 2017 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet. Er erhielt die renommierte Auszeichnung für seine bahnbrechende Arbeit in der Verhaltensökonomie, insbesondere dafür, wie menschliche Verhaltensmuster – oft geprägt von emotionalen und irrationalen Entscheidungen – das ökonomische Denken und Handeln beeinflussen.
Was Nudging nicht ist
Nudging darf nicht mit Manipulation oder Bevormundung verwechselt werden. Im Supermarkt bedeutet ein Nudge nicht, dass Kundinnen und Kunden durch irreführende Werbung oder aggressive Verkaufsstrategien zu einem Kauf gedrängt werden. Es handelt sich nicht um versteckte Tricks oder psychologische Manipulation, die die Konsumentinnen und Konsumenten überrumpeln.
Vielmehr bleibt die Wahlfreiheit vollkommen erhalten – die Pizza ist immer noch da, sie steht nur nicht mehr so prominent im Vordergrund. Ein Nudge sorgt dafür, dass die gesündere oder nachhaltigere Option sichtbarer und einfacher zu wählen ist, ohne Druck oder Zwang. Nudging zielt darauf ab, Entscheidungen zu erleichtern, nicht zu diktieren.
Nudging im Alltag
Die kleinen Anstupser finden wir in unserem Alltag mittlerweile ganz oft, ohne sie als solche wahrzunehmen. Fünf Beispiele machen dies deutlich:
- In der Kantine wird als Standardbeilage Salat statt Pommes Frites angeboten.
- Fragen auf einem Formular werden so formuliert, dass sie nicht verwirrend sind.
- Am Waschbecken in öffentlichen Toiletten wird darauf hingewiesen, dass sich 90 Prozent der Menschen für 20 Sekunden die Hände waschen.
- Gesunde Speisen werden auf Augenhöhe angeboten – einfach zu sehen und zu erreichen.
- Plakate oder Briefe erinnern an Wahlen.
Diese Situationen hatten wir wohl alle bereits, haben aber nicht bemerkt, dass es sich dabei oft um Nudging handelt. Warum diese Beispiele genau Nudging sind, erklärt das Lernangebot „Nudging in der Ernährung“ der HAW Hamburg noch genauer.

Nudging in der Ernährung
Grundlagen für die Anwendung von Nudging im Bereich der Ernährung und Gesundheit.
Das Problem ungesunder Ernährung ist global
In einer Welt, in der sich ungesunde Essgewohnheiten zunehmend auf die Gesundheit auswirken, könnte Nudging ein mächtiges Instrument sein, um Menschen noch effektiver zu gesünderen Entscheidungen zu bewegen.
Das Problem ungesunder Ernährung ist global: Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist ungesunde Ernährung ein Risikofaktor für viele Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder Diabetes.
Insgesamt sollen laut WHO zwei Milliarden Menschen an Übergewicht und Adipositas (starkes Übergewicht hin zu Fettleibigkeit) leiden. Und tatsächlich sterben laut einer Studie von 2019 weltweit schätzungsweise 11 Millionen Menschen jährlich an den Folgen ihrer ungesunden Ernährung. Das sind alarmierende Zahlen eines globalen Problems.
Knapp ein Fünftel der Erwachsenen in Deutschland leiden an Adipositas
In Deutschland sind die Zahlen ebenfalls besorgniserregend: 60 Prozent der Männer und 47 Prozent der Frauen sind laut dem Robert-Koch-Institut (RKI) von Übergewicht betroffen. Fast ein Fünftel der Erwachsenen (19 Prozent) wiesen eine Adipositas auf, so das RKI weiter.
Besonders bei Kindern ist die Entwicklung bedenklich: Fast 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland leiden dem RKI zufolge an Übergewicht, etwa 6 Prozent an Adipositas. Diese Trends verdeutlichen, wie notwendig es ist, gesündere Entscheidungen zu fördern.

Nudging für mehr Gesundheit und Nachhaltigkeit
Dieser Online-Kurs führt Multiplikatoren und interessierte Personen in den Einsatz von Nudging zur Förderung von Gesundheit und Nachhaltigkeit ein. Das Schulungskonzept ermöglicht eine schnelle Einarbeitung und praktische Anwendung des Gelernten. Der Kurs richtet sich an Fachkräfte und Einzelpersonen mit Interesse an Gesundheit und Nachhaltigkeit, ist kostenlos und flexibel online zugänglich. Ziel ist es, ein umfassendes Verständnis von Nudging zu entwickeln und Teilnehmende zur Anwendung im Beruf oder Alltag zu befähigen. Durch Quizzes und Übungen können Teilnehmende ihr Wissen vertiefen, mit dem Ziel, Nudging effektiv für Gesundheit und Nachhaltigkeit einzusetzen.
Mit Nudging zu gesünderen Alternativen greifen
Hier kann neben vielen weiteren Maßnahmen zur Gesundheitsförderung auch Nudging ein Baustein sein: Mit gezielten Maßnahmen in Supermärkten, Kantinen und der Lebensmittelindustrie könnten Menschen leichter zu gesünderen Alternativen greifen. Vielleicht war dir das Konzept des Nudging bisher fremd, vielleicht hast du es aber auch schon unbewusst in deinem Alltag erlebt. Aber letztlich liegt es an uns, die Verantwortung für unsere Entscheidungen zu übernehmen.
Lass uns diese „sanften Stupser“ öfter mal nutzen, um unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit aktiv zu fördern. Eine gesunde Ernährung ist der Schlüssel zu einem langen, glücklichen Leben – und Nudging kann uns dabei helfen, den richtigen Weg einzuschlagen, ohne dass wir es schwer haben.