Das Bild zeigt ein Modell eines Gehirns.

Bild: Robina Weermeijer / Unsplash

05.10.2024 | Meena Stavesand

Epilepsie verstehen: Neurochirurg spricht über Ursachen, Diagnose und Therapiemöglichkeiten

Epilepsie ist eine komplexe neurologische Erkrankung, die bei etwa 0,5 bis 1 Prozent der Menschen im Laufe ihres Lebens auftritt. Bei Kindern ist es die häufigste neurologische Erkrankung. Doch nicht jeder Anfall, der umgangssprachlich oft als „Krampfanfall“ bezeichnet wird, weist auf eine Epilepsie hin. Manchmal spiegeln Anfälle nur eine vorübergehende Störung des Gehirns wider und können durch Faktoren wie Schlafentzug, niedrigen Blutzucker oder andere medizinische Ursachen ausgelöst werden.

Tatsächlich erlebt etwa jeder zehnte Mensch in seinem Leben einen einmaligen Anfall, ohne dass eine erhöhte Anfallsbereitschaft vorliegt. Dennoch ist es wichtig, wiederkehrende Anfälle ernst zu nehmen und eine genaue Diagnose zu stellen, um die richtige Therapie zu finden.

Dieser Einblick zeigt, wie vielfältig die Ursachen und Symptome sein können und warum eine frühzeitige Diagnose entscheidend für den Umgang mit der Krankheit ist. Wir haben mit Dr. med. Thomas Sauvigny, Geschäftsführender Oberarzt und Leiter der Epilepsiechirurgie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), über die Erkrankung gesprochen. Weiterführende Informationen zu Epilepsie gibt es auch im UKE-Lernangebot „Medizin. Online. Verstehen“.

Was ist Epilepsie und wie äußert sie sich?

Obwohl wir eine Vorstellung davon haben, was Epilepsie ist, ist eine genaue Definition schwierig, da sie entweder relativ vage ist oder möglicherweise Dinge ausschließt, die doch vorhanden sind. Eine pragmatische Definition: Epilepsie ist eine Erkrankung des Gehirns, die durch eine elektrische Fehlfunktion gekennzeichnet ist. Es liegt also eine elektrische Überaktivität von Nervenzellen vor, die zu epileptischen Anfällen führt. Wenn man mehrere epileptische Anfälle hat, kann man in der Regel sagen, dass man wahrscheinlich eine Epilepsie hat.

Wie erkennt man epileptische Anfälle?

Epileptische Anfälle können sich sehr unterschiedlich äußern. Es kann sich um eine Bewusstlosigkeit mit motorischen Entäußerungen handeln, d.h. Arme oder Beine fangen an zu schlagen, obwohl man nicht bei Bewusstsein ist. Es kann aber auch sein, dass man ein komisches Gefühl im Bauch hat oder Stimmen hört. All das kann ein epileptischer Anfall sein. Deshalb gibt es viele Definitionen oder Beschreibungen von epileptischen Anfällen.

Gemeinsam ist all diesen epileptischen Anfällen, dass es sich um eine Überaktivität oder Fehlfunktion von Nervenzellen handelt. Dies kann neurobiologische, kognitive und soziale Folgen haben. Diese Komplexität macht eine allgemeine Definition schwierig. Das ist auch der Grund, warum wir in der Diagnostik auf Klassifikationen zurückgreifen: Wenn wir die Ursache im Gehirn finden oder wenn wir gemessen haben, dass der Patient oder die Patientin Anfälle hat, dann können wir sagen: Das ist eine Epilepsie. 

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Anfälle können sich auch durch ungewöhnliche Verhaltensweisen zeigen, wie plötzliche Lachanfälle, was besonders bei einer bestimmten Epilepsieform bei Kindern vorkommt.
Dr. Thomas Sauvigny, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Reicht ein einziger epileptischer Anfall aus, um eine Epilepsie zu diagnostizieren?

Wenn wir zum Beispiel feststellen, dass im Kopf eine strukturelle Läsion (eine Schädigung, Verletzung oder Störung der Struktur), z.B. ein Tumor oder etwas ähnliches vorliegt, dann ist das Risiko, dass weitere Anfälle auftreten, relativ hoch. Ein in der Literatur vorgeschlagener Wert dafür ist 60 Prozent. Wir sagen also: Wenn das Risiko, weitere epileptische Anfälle zu bekommen, größer als 60 Prozent ist, dann diagnostizieren wir eine Epilepsie.

Das heißt im Umkehrschluss: Wenn jemand einen einzigen Anfall hat, der zum Beispiel durch Schlafentzug ausgelöst wurde, dann erfüllt das nicht die Kriterien zur Diagnose einer Epilepsie. Wenn wir keine andere Ursache im Kopf finden, zum Beispiel keine Läsion, dann sagen wir: Das ist keine Epilepsie, sondern ein einmaliges Ereignis – provoziert durch zu wenig Schlaf. Die Wahrscheinlichkeit, dass es wieder vorkommt, ist gering, wenn man nicht wieder zu wenig schläft.

Wenn man aber z.B. einen Hirntumor hat und ein oder zwei hierdurch ausgelöste Anfälle, dann reicht dies aus, um zu sagen, dass man eine Epilepsie aufgrund des Hirntumors hat. Wir gehen dann davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit für weitere Anfälle relativ hoch ist, wenn die Ursache nicht behandelt wird. Das heißt: Ein Anfall ist nicht unbedingt gleich Epilepsie, aber man muss der Ursache nachgehen.

Was sind mögliche erste Anzeichen oder Symptome?

Die Diagnose von Anfällen wird besonders herausfordernd, wenn sie sich nicht als klassischer bilateraler tonisch-klonischer Anfall zeigen – jene Form, die früher als großer Krampfanfall (Grand-Mal) bekannt war, einhergehend  mit Bewusstseinsstörung und ausgeprägten motorischen Entäußerungen. Solche Anfälle werden in der Regel rasch als epileptisch erkannt oder zumindest vermutet. Doch es gibt auch Formen, die nur bestimmte Gehirnregionen betreffen, sogenannte fokale Anfälle, die sich sehr vielfältig und manchmal nur sehr diskret äußernd. Daher können die geschilderten Symptome oft fehlgedeutet werden. Prinzipiell sind immer Differentialdiagnosen (z.B. auch Synkopen) bei der Erstdiagnose zu berücksichtigen

Insbesondere bei Kleinkindern und Säuglingen ist die Erkennung von Anfällen oft schwierig, da sie sich auf vielfältige Weise äußern können – etwa durch nur sehr kurze Bewusstseinsverluste, Sprachstörungen oder das Auftreten einer sogenannten Aura, das zum Beispiel als ein ungewöhnliches Gefühl in der Bauchregion beschrieben wird. Manche Anfälle treten ausschließlich im Schlaf auf und bleiben unbemerkt, bis am nächsten Tag Symptome wie Muskelkater, Erschöpfung oder kognitive Einschränkungen auffallen. Anfälle können sich auch durch ungewöhnliche Verhaltensweisen zeigen, wie plötzliche Lachanfälle, was besonders bei einer bestimmten Epilepsieform bei Kindern vorkommt. Visuelle Phänomene, wie Flimmern oder Blitze, sind ebenfalls mögliche Anzeichen mancher Epilepsieformen.

Diese Vielseitigkeit macht die Erkennung von Anfällen besonders komplex. Da theoretisch jede normale Gehirnfunktion durch einen Anfall beeinträchtigt werden kann, gibt es unzählige Erscheinungsformen. Deshalb gibt es keine allgemeingültige oder pauschale Beschreibung eines Anfalls und auch unter Expert:innen herrscht häufig Uneinigkeit über die korrekte Benennung und Interpretation.

Gehen Betroffene dann relativ spät zum Arzt, weil sie die Symptome nicht als schwerwiegend wahrnehmen oder die Anfälle nicht bemerken, weil sie eben im Schlaf auftreten?

Ja, das kann vorkommen. Natürlich gibt es Epilepsieformen, die sofort auffallen, entweder durch Begleiterkrankungen oder weil die Anfälle so eindeutig sind. Nicht selten bleiben Epilepsien aber auch jahrelang unbemerkt, weil die Symptome mit anderen Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen verwechselt werden. Manchmal dauert es Jahre, bis die richtige Diagnose gestellt und die genaue Ursache der Epilepsie gefunden wird.

Wird die Ursache einer Epilepsie immer gefunden?

Es gibt Fälle, in denen die Ursache unklar ist. Früher sprach man von kryptogenen Epilepsien, wenn keine eindeutige Ursache gefunden werden konnte. Wir haben eine internationale Klassifikation der Epilepsien, die die Anfälle nach ihrer Entstehung einteilt:

  • Fokale Anfälle, die nur in einem bestimmten Teil des Gehirns auftreten,
  • generalisierte Anfälle, die das ganze Gehirn betreffen, und
  • Anfälle unbekannter Ursache.

Die Ursachen der Epilepsie sind einerseits genetische Faktoren und/oder strukturelle Veränderungen im Gehirn. Andererseits gibt es auch infektiöse oder autoimmune Ursachen um die häufigsten zu nennen.

Wie läuft eine Diagnose ab? Muss immer ein MRT gemacht werden?

Ein MRT ist ein wichtiger Bestandteil der Diagnostik, aber erst der zweite oder dritte Schritt. Der erste Schritt ist immer die Anamnese, also die genaue Befragung der Betroffenen und deren Angehörigen. Dann macht man in der Regel ein Elektroenzephalogramm (EEG), um die Hirnströme zu messen. Ein kurzes EEG zeigt jedoch nicht immer Anfälle. Deshalb kann es notwendig sein, das EEG über mehrere Tage durchzuführen und die Patientinnen und Patienten mit Videokameras zu überwachen. Oft bringen auch Angehörige Handyvideos mit, die helfen, die Anfälle zu dokumentieren. Es folgen weitere Untersuchungen wie eine Kernspintomographie oder eine Nervenwasseranalyse, um die Ursache der Anfälle herauszufinden. Darüber hinaus gibt es in Epilepsiezentren noch viele weitere, spezielle Untersuchungen, die durchgeführt werden können.

Wie sieht die Therapie aus?

Das hängt von der Art der Epilepsie ab. Die Haupttherapie besteht zunächst aus Medikamenten, die die Anfälle unterdrücken. Liegt eine strukturelle Ursache wie ein Tumor oder eine Fehlbildung vor, kommt oft auch eine Operation in Frage. Es gibt auch neurochirurgische Eingriffe, bei denen Hirnregionen stimuliert werden, um die Anfallsbereitschaft zu verringern, z. B. der Vagusnervstimulator. Bei bestimmten Epilepsien helfen auch Diäten oder experimentelle Therapien.

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Epilepsie wirkt sich mitunter stark auf das soziale Leben der Betroffenen aus. Ein LKW-Fahrer, der an Epilepsie erkrankt, kann beispielsweise seinen Beruf nicht mehr ausüben.
Dr. Thomas Sauvigny, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Es geht also in erster Linie darum, die Anfälle etwa durch Medikamente zu reduzieren?

Genau, wir wollen die Anfälle durch Medikamente so weit wie möglich abschwächen, reduzieren oder wenn möglich ganz verhindern. Leider gelingt uns das bei etwa einem Drittel der Patientinnen und Patienten nicht, das heißt, es kommt trotz der Medikamente zu Anfällen. Aber umgekehrt: Bei vielen Betroffenen gelingt es, die Anfälle zu unterdrücken. Das hängt von der Art der Epilepsie ab. Wichtig ist auch, dass bei bestimmten Anfallsformen, die generalisiert auftreten, ein relevantes Risiko besteht, an einem Anfall zu sterben (sog. SUDEP). Dies ist vergleichbar mit dem plötzlichen Kindstod. Das ist natürlich ein extremes Beispiel, aber es zeigt, dass Epilepsie keine ungefährliche Krankheit ist. Auch Anfälle, die nicht tödlich verlaufen, können das Gehirn weiter schädigen und die Krankheit verschlimmern. Deshalb sind Medikamente wichtig.

Darüber hinaus gibt es psychosoziale und neuropsychologische Behandlungsmöglichkeiten, denn die Krankheit wirkt sich mitunter stark auf das soziale Leben aus. Ein LKW-Fahrer, der an Epilepsie erkrankt, kann beispielsweise seinen Beruf nicht mehr ausüben. Das ist ein ganz anderes Problem als bei einem Vierjährigen, bei dem es dafür viel mehr um die kognitive Entwicklung geht. Es gibt also viele verschiedene Ansätze, die individuell angepasst werden.

Ist Epilepsie heilbar oder eine Krankheit, mit der man leben muss?

Grundsätzlich ist Epilepsie heilbar, aber das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Bei manchen Patientinnen und Patienten kann zum Beispiel ein Blutschwämmchen im Gehirn entfernt werden, und danach treten keine Anfälle mehr auf. Nach einigen Jahren können dann die Medikamente reduziert oder ganz abgesetzt werden. In solchen Fällen spricht man von Heilung. Betrachtet man aber alle Epilepsiepatienten, so handelt es sich in den meisten Fällen um eine chronische Erkrankung, die einen ein Leben lang begleitet. Das heißt nicht, dass man immer Anfälle hat, aber viele Menschen müssen ihr Leben lang Medikamente einnehmen, um anfallsfrei zu bleiben.

Spielen Stress, Ernährung und andere Faktoren eine Rolle bei Epilepsie?

Stress an sich verursacht kausal keine Epilepsie, aber er kann die Wahrscheinlichkeit eines Anfalls erhöhen, insbesondere wenn andere Faktoren wie Schlafmangel oder Alkoholkonsum hinzukommen. Diese Faktoren beeinflussen die Erregbarkeit der Nervenzellen und können bei einer bestehenden Epilepsie einen Anfall auslösen. Daher ist es wichtig, auf diese Dinge zu achten, um das Risiko zu verringern. Zum Thema Ernährung: Eine spezielle Diät kann bei bestimmten Epilepsieformen helfen, ist aber nicht bei allen Epilepsieformen sinnvoll.

Wie gehen Menschen mit Epilepsie mit psychischen oder sozialen Faktoren um? Das ist sicher eine große Belastung.

Ja, das ist ein großes Thema. Epilepsie ist eine chronische Erkrankung, die das soziale Leben stark beeinträchtigen kann. Vor einigen hundert Jahren galten Menschen mit Epilepsie noch als vom Teufel besessen oder schwachsinnig. Diese Stigmatisierung hat sich geändert, aber Epilepsie ist immer noch eine Krankheit, die mit Vorurteilen behaftet ist. Für Menschen, die beruflich eingeschränkt sind, wie zum Beispiel Lastwagenfahrer, bedeutet die Diagnose oft das Ende ihrer bisherigen Tätigkeit. Bei Kindern geht es vor allem um die schulische und kognitive Entwicklung. Viele Patientinnen und Patienten leiden auch an psychischen Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen, die entweder durch die Epilepsie selbst oder durch die Belastungen der Erkrankung verursacht werden. Es gibt eine hohe Rate an sogenannten Komorbiditäten, also dem gleichzeitigen Auftreten mehrerer Erkrankungen.

In diesem Lernangebot stellen wir verschiedene Erkrankungen und deren Behandlung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) in Form von kurzen Filmen und informativen Texten auf einer projekteigenen Webseite vor.  

Zum Lernangebot

Welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es?

Es gibt zahlreiche Selbsthilfegruppen, die sehr hilfreich sind. Wichtige Anlaufstellen sind auch die spezialisierten Epilepsiezentren. Das Epilepsiezentrum Hamburg zum Beispiel vereint drei Krankenhäuser: Das Evangelische Krankenhaus Alsterdorf, das UKE und das Kinderkrankenhaus Wilhelmstift. Dort gibt es auch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die sich um die Vereinbarkeit von Epilepsie und Beruf kümmern, und spezielle Arbeitsplätze für Menschen mit Epilepsie. Diese Zentren bieten ebenfalls neuropsychologische Betreuung und Beratung für den Alltag an.

Ein Ausblick: Gibt es derzeit innovative Behandlungsmethoden oder Ansätze, die noch nicht weit verbreitet sind?

Es gibt viele neue Ansätze, die sich in der Entwicklung befinden – sowohl neue Medikamente wie auch innovative Therapieverfahren wie z.B. gentherapeutische Ansätze. Auch in der Neurochirurgie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten viel getan. Komplexere Fälle können heute besser operiert werden. Die Diagnostik hat sich durch invasive Methoden wie das Einsetzen von Elektroden ins Gehirn verbessert. Ein weiteres spannendes Gebiet ist die Genetik. In den vergangenen Jahren wurden immer mehr genetische Ursachen für Epilepsien entdeckt, auch für solche, bei denen man bisher nicht von genetischen Ursachen ausging. In Zukunft wird es wahrscheinlich neue medikamentöse Ansätze geben, die gezielt auf bestimmte Mutationen wirken.

Forschung wirkt. Je mehr wir über die Krankheit wissen, desto besser können wir sie behandeln.

Ja, generell hat die genetische Forschung in den vergangenen zehn Jahren große Fortschritte gemacht. Es gibt aber auch viele andere Bereiche, in denen sich einiges getan hat, zum Beispiel in der invasiven und bildgebenden Diagnostik. Es ist ein Zusammenspiel verschiedener Disziplinen, die dazu beitragen, dass wir die Krankheit besser verstehen und behandeln können.

Über Dr. Thomas Sauvigny

Dr. Thomas Sauvigny ist Facharzt für Neurochirurgie sowie geschäftsführender Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Sein Medizinstudium hat der gebürtige Koblenzer an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen absolviert. Seit 2012 ist Dr. Thomas Sauvigny am UKE tätig.